: „Reform ist keine graue Maus, sondern ein Prozeß“
Unerträgliche Psychiatrie - Ein Gespräch mit Prof.Dr.Dr. Klaus Dörner ■ I N T E R V I EW
Psychisch Kranke leben in „gefängnisähnlichen Gebäuden“, in „katastrophaler Überfüllung“ unter „elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen“. So 1973 die Expertenkommission der Bundesregierung in ihrem Zwischenbericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Mit einem fünfjährigen Modellprogramm sollten langfristig die Zustände grundlegend verändert werden. Sechzehn Jahre danach wendete sich der Arbeitskreis der Leitenden Ärzte Psychiatrischer Krankenhäuser mit einem „Tag der Psychiatrie“ (11. Juni 1988) an die Öffentlichkeit. Ist die Reform doch ausgeblieben? Dazu Prof.Dr.Dr. Klaus Dörner, Ärztlicher Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie.
taz: 1973 Zwischenbericht, 1975 Abschlußbericht, von 1980 bis 1985 ein Modellprogramm. Nun wird wieder auf einen Abschlußbericht gewartet. Wann darf man eigentlich von einer Reform der Psychiatrie sprechen?
Prof.Dörner: Nehmen wir einmal an, der Expertenbericht wird nächstes oder übernächstes Jahr diskutiert, dann könnten vielleicht erst 1992 die erforderlichen Gesetzesänderungen beschlossen werden. Dann erst könnte man von einer wirklichen Reform sprechen. Das wäre dann eine Laufzeit von 20 Jahren. Das Schlimme ist nur, daß sich derweilen schon wieder soviel in der Psychiatrie ändert, daß das gesetzmäßig Nachvollzogene schon wieder überholt sein dürfte.
1980 wurden für das Modellprogramm 500 Millionen Mark bewilligt, bis Ende 1985 aber nur 240 Millionen Mark ausgegeben. Haben Sie Geld verschenkt?
1979 war der Bericht über die Lage der Psychiatrie endlich im Parlament. Nun, wo die Bundesregierung Entscheidungen daraus ziehen mußte, wollte Gesundheitsministerin Huber nicht mehr. Sie erklärte, es wäre kein Geld mehr da, man könnte nichts machen. Das hat dann den Finanzminister Matthöfer so schamrot werden lassen, daß er dafür sorgte, daß wenigstens 500 Millionen Mark auf den Tisch kamen. Später wurde die Hälfte davon wieder gestrichen.
Also dürfte man von „Reform“ nicht sprechen?
Würde ich nicht sagen. Reform ist keine graue Maus, sondern ein Prozeß. Menschen denken nach und versuchen, ihre Gedanken und Verhaltensweisen zu ändern. Währenddessen wurden Milliarden an Baumaßnahmen in Krankenhäuser gesteckt, die Personalbestände sind im Verhältnis zur Zahl der Patienten verdoppelt worden. Heute ist das Netz von kleinen psychiatrischen Einrichtungen schon dichter als das der Landeskrankenhäuser. Außerhalb der Klinik gibt es Tageskliniken, Übergangsheime, Wohngruppen, betreutes Einzelwohnen, Firmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen für psychisch Kranke. In Gütersloh waren vor zwölf Jahren 1.200 Patienten stationär, heute sind es nur noch 450. Da kann man nicht sagen, es ist nichts passiert.
In Hamburg wurden über hundert stationäre staatliche Betten in den ambulanten Bereich in gemeinnütziger und privater Trägerschaft umgewandelt. Gewerkschaften sehen eine Privatisierung und den Abbau des staatlichen Gesundheitsauftrages. Ist die Situation nicht verrückt?
Wurde früher jemand beim dritten Mal aufgenommen, dann hätte man gesagt, es hat keinen Zweck mehr. Der bleibt lebenslang in der Anstalt verwahrt. Das war die staatliche Betreuung bis zum Lebensende. Es wäre doch das Bequemste für mich, zu sagen, alles bleibt in staatlicher Hand. Ich bin die Spinne im Netz, ich organisiere alles in meinem Einzugsbereich von über 700.000 Einwohnern. Ost-Westfalen wird von mir psychiatrisch kontrolliert, mir entrinnt kein psychisch Kranker. Das kann nicht im Sinne des lieben Gottes oder der Natur sein. Man muß schon die Strategien der öffentlichen Hand und des Unternehmertums zusammenpacken, also alles, was unsere Gesellschaft bietet, um das Beste daraus zu machen, weil das Problem eben so schwierig ist.
Geht es etwas konkreter?
Werkstätten für Behinderte sind für viele psychisch Kranke kein geeignetes Instrument. Wir haben vom öffentlichen Dienst aus mit den Mitteln der Vereinsgründung oder der GmbH, also mit unternehmerischen Mitteln, Selbsthilfefirmen zustande gebracht. So konnten wir psychisch kranken Menschen das Gefühl und das Bewußtsein geben, sich durch lohnabhängige Arbeit zu verwirklichen.
In einer Umfrage der Fernsehsendung „Gesundheitsmagazin Praxis“ haben 91 Prozent der befragten Chefärzte bestätigt, daß die Versorgung psychiatrischer Patienten insgesamt oder teilweise unzureichend ist. 57 Prozent sprechen von Zweiklassenmedizin, und 27 Prozent der Patienten könnten entlassen werden, gäbe es eine optimale Versorgung. Psychiatrie - immer noch ein Skandal?
Also Skandal ist jetzt so ein Wort, das ich nicht so liebe, das klingt so skandalträchtig, das ist ...
... vielleicht braucht man deutliche Worte für die skandalösen Zustände in der Psychiatrie.
Ja, insofern. Wir befinden uns in einem Prozeß, in dem seit spätestens 1972 was passiert. Das ist aber alles nicht mit einer gemeinschaftlich politisch beschlossenen Reform zu verwechseln. Der Nachholbedarf wurde nie voll befriedigt, so ist die Situation in jedem Bundesland extrem unzureichend.
In den letzten 15 Jahren haben sich zudem die Strukturen völlig verändert. In Gütersloh gibt es die pflegeleichten Langzeitpatienten nicht mehr, die sind alle draußen. Die haben früher mitgearbeitet, fast ohne Bezahlung, und haben Personal eingebracht. Das haben wir ihnen aber vorenthalten und haben damit die Aufnahmestationen betrieben.
Das war die Systemlogik sämtlicher psychiatrischer Krankenhäuser in der Bundesrepublik, da hat niemand darüber gesprochen, aber jeder hat es gewußt. Dazu kommt, daß sich die Verweildauer halbiert hat und daß sich die Behandlungsstandards fast vervierfacht haben.
Man kann sich vorstellen, daß das einen Streß für die Mitarbeiter bedeutet, der inzwischen unerträglich geworden ist.
Letzte Rettung: der Tag der Psychiatrie?
Das ist das Geheimnis, warum gerade jetzt den psychiatrisch Tätigen und dem Arbeitskreis der Ärztlichen Leiter der Psychiatrischen Krankenhäuser der Kragen platzt.
Eigentlich ist es der blödeste Zeitpunkt, den man sich hätte aussuchen können, denkt man an die Gesundheitsreform. Aber die psychiatrisch Tätigen machen die Schweigepolitik der letzten sechs Jahre nicht mehr mit.
Sie machen die Schnauze auf und gehen auf die Straße, weil es unerträglich geworden ist.
Das Gespräch führte Frank Jensen
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