: „Wir lassen uns nicht von den USA abkoppeln“
Gorbatschow erntet mit seinen neuen Vorschlägen zur konventionellen Abrüstung überwiegend ablehnende Reaktionen / Zu Katyn sagte Gorbatschow kein Wort, bedauerte aber die „unrechtmäßige Deportation von Polen“ aus der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg ■ Von Florian Bohnsack
Berlin (taz) - Während Gorbatschow am zweiten Tag seines Polen-Besuches im Krakauer Wawelschloß mit Jugendlichen diskutierte, ging im Westen der Streit um die Relevanz seiner neuen Abrüstungsvorschläge weiter. Gorbatschow hatte am Montag abend im polnischen Parlament ein Gipfeltreffen aller europäischen Regierungschefs vorgeschlagen, das zur Vertrauensbildung zwischen den west- und osteuropäischen Staaten genutzt werden könne und bei dem Probleme des konventionellen Rüstungsabbaus besprochen werden sollten. Er kündigte den Rückzug von 72 Jagdbombern aus Osteuropa an, wenn die NATO darauf verzichte, die gleiche Anzahl von Flugzeugen des Typs F-16 aus Spanien nach Italien zu verlegen. Gleichzeitig hatte Gorbatschow eine Reduzierung der Truppen in beiden Blöcken um 500.000 Soldaten vorgeschlagen. Auch ein gesamteuropäisches Forschungszentrum kann Gorbatschow sich jetzt vorstellen, in dem Vertreter des Warschauer Paktes und der NATO sich mit Abrüstung befassen.
Während der SPD-Rüstungspolitiker Andreas von Bülow die „ganze Rederei der NATO von der angeblichen Moskauer Propagandaaktion“ verurteilte und die „große Tragweite“ der Vorschläge aus Warschau betonte, bewertete Volker Rühe (CDU) die Vorschläge Gorbatschows als wenig hilfreich. Mit der KSZE bestehe bereits ein Gremium bestehe, das zu einer europäischen Abrüstungskonferenz führen soll. Rühe schlug eine Vereinbarung vor, nach der kein Land in einem anderen mehr Truppen stationieren dürfe als die Heimarmee zähle. Auch sei es überfällig, daß die UdSSR die vier Divisionen aus der CSSR abziehe, mit denen sie 1969 das Ost-West -Kräfteverhältnis einseitig verändert habe. Michaela Geiger (CSU) verweigerte ein Nachdenken schlicht mit den Worten: „Wir lassen uns nicht von den USA abkoppeln“. Die Bundesregierung will die Vorschläge „sorgfältig prüfen“. Sprecher Ost wies auf die inzwischen erreichte hohe Übereinstimmung bei den Wiener Verhandlungen zur konventionellen Stabilität hin.
Die US-Regierung reagierte auf die Vorschläge Gorbatschows ablehnend. Auch der neue NATO-Generalsekretär Wörner sah an den Vorschlägen nichts Gutes. Konventionelle Balance in Europa sei nur zu erreichen, wenn der Hauptgrund für das militärische Ungleichgewicht angesprochen werde: die massive Präsenz der sowjetischen Bodentruppen in Europa. Der Vorschlag Gorbatschows sei „wenig sinnvoll“.
Gorbatschow hatte die polnischen Erwartungen nicht erfüllt und bei seiner Rede die Massaker von Katyn nicht direkt angesprochen. Statt dessen sprach er von der Unrechtmäßigkeit der Deportation von Polen aus den westlichen Gebieten der Sowjetunion, die damals zu Polen gehörten. „Wir verdammen stalinistische Unterdrückung“, sagte Gorbatschow dazu. Ob es zu einer Änderung der Geschichtsschreibung in absehbarer Zeit kommt, ist offen. Die Geschichte könne nicht neu geschrieben werden, sagte Gorbatschow im Sejm.
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