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EUROPÄISCHER BLÄHBAUCH

■ oder der Traum vom balkanischen Essen

An der Kreuzung von Schlüter- und Kantstraße sind in den letzten Jahren mindestens fünf italienische und eine spanische Gaststätte eingegangen. Trotz des völkerverbindenen Namens „Mallorca Express“, trotz Verheißung „italienischer Atmosphäre“, trotz vor die Tür gestellten Notenständern mit Speisekarten aus dem Land der Bellcantosänger und Geigenvirtuosen, trotz unerbittlichem Preiskampf und Scampis für 6 Mark 50, trotz „sehr zum Wohlsein, prego“ und Speisekartenhorizonterweiterung von Spanien bis nach Südamerika.

Nur der „Adria-Grill“ mit „jugoslawischen und internationalen Spezialitäten“ zwischen Drogerie-Markt und wechselnden Überflüssigkeiten-Palästen in einem öden fünfziger Jahre-Bau hält sich hartnäckig und unauffällig, obwohl die Bahnhofshalle hinter den gräulichen Gardinen meist leer ist. Denn der vom rohen Fisch des Japaners mit dem eher an eine Software-Firma als an ein Restaurant erinnernden Schild auf der anderen Straßenseite verdorbene Magen sehnt sich offenbar zurück zu den kühnen, übelkeitsverachtenden Selbstversuchen in Sachen exotischer Küche von vor zwanzig Jahren und sucht die Orte der frühen Liebe zur nächstgelegenen Ferne heimlich an Werktagen, wenn der Kühlschrank zu Hause leer ist doch immer wieder auf. „Die kochen furchtbar scharf“, höre ich noch meinen Vater sagen. „Und mit rohen Zwiebeln und Knoblauch, da stinkt man hinterher.“ Langsam arbeiteten wir uns damals von der internationalen Wiener-Schnitzel-Spezialität mit Pommes durch die Speisekarte rückwärts bis zum Cevapcici mit Pommes und schließlich zum Cevapcici mit Djuwetschreis. Und die Schnitzel hingen über den Tellerrand und die Kotwürstchen stapelten sich - viel, gut, billich. Selbst die halbe Portion reichte sogar uns Wirtschaftswunderkindern.

Heute sind die Kellner immer noch tätowiert und freundlich verwegen wie damals, wenn auch inzwischen mit dialektalem Einschlag im nach wie vor gebrochenen Deutsch. Aber jetzt leeren wir noch ein halbes Glas Chili extra über den Reis und bestellen uns sogar einen Nachtisch, denn so billig essen wir ja selten. Und der Geruch von Zwiebeln und Knoblauch stört uns schon lange nicht mehr. Nur der Krautsalat, der bläht auch heute noch.

grr

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