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Tödliche Experimente an Menschen

Ein Buch zur Geschichte der Menschenversuche und über den Verlust ethischer Bedenken in der Medizin  ■  Von Udo Sierck

Freimütig bekannte sich Prof.Andrew Conwey Ivy dazu, daß er im US-Staat Illinois an 800 Insassen eines Gefängnisses nach deren Aufklärung und Einverständniserklärung Malariaexperimente durchgeführt hat. Er hielt dies für mit der ärztlichen Ethik vereinbar. Kurze Zeit später wurde Ivy als Sachverständiger zum Nürnberger Ärzteprozeß geladen. Verhandelt wurde hier seit Dezember 1946 gegen deutsche Ärzte, die an verbrecherischen Menschenversuchen in den nazistischen Konzentrationslagern teilgenommen hatten.

Diese Konstellation belegt beispielhaft, in welches Dilemma sich eine Medizin begibt, die den Menschenversuch im klinischen Bereich bedenkenlos einsetzt. Daß die NS-Medizin unter der Parole „Modernisierung durch Vernichtung“ hunderttausende Menschen ermordete, ist inzwischen dokumentiert; nicht hinterfragt wurde das wissenschaftliche Experiment am Menschen, das doch eine entscheidene Rolle spielte. Diese Lücke füllt das von mehreren AutorInnen vorgelegte Buch.

Einleitend zeichnet Gerhard Baader nach, wie sich in den vergangenen Jahrhunderten der Versuch am Menschen als Mittel einer exakten Wissenschaft und mit dem Argument der wertfreien Objektivität etablieren konnte. Dabei belegt er, daß bei nahezu allen klinischen Experimenten in der wissenschaftlichen Medizin ethische Fragestellungen unterblieben. Abgewogen wurde auch im „günstigsten“ Fall nur zwischen dem möglichen Schaden für die Versuchsperson und dem erhofften Nutzen für die Allgemeinheit - wobei letzterer regelmäßig höher bewertet wurde. Für Baader steht deshalb fest, daß die grausamen Menschenexperimente in den Konzentrationslagern in ihrer ganzen Brutalität zwar ohne Vergleich stehen, andererseits aber eine Tradition fortsetzten und die „volle Konsequenz einer reduktionistisch naturwissenschaftlichen Medizin“ waren.

So mußten in Kriegszeiten lediglich klare Aufgaben von verantwortlicher Seite angeordnet, die Möglichkeiten für die Experimente geschaffen und im naturwissenschaftlichen Verständnis für unverzichtbar erklärt werden, um auch bei anerkannten medizinischen Kapazitäten jegliche moralisch -ethischen Grenzen zu sprengen. Dabei, so Baaders erschreckende Erkenntnis, waren die Menschenversuche zur Erprobung neuer Arzneimittel, die Experimente in der wehrmedizinischen Zweckforschung und die zur Untermauerung des „genetisch-eugenisch-rassehygienischen Grundkonzepts“ bis auf sinnlose Hormonversuche von Schering in Auschwitz „im Sinne der naturwissenschaftlichen Doktrin durchaus seriös“.

Den Zugriff auf die Insassen der Konzentrationslager zu Forschungszwecken vermittelte den Wissenschaftlern die Stiftung „Ahnenerbe“, deren zentrale Funktion und Werdegang Sabine Schleiermacher in ihrem Aufsatz beschreibt. Mit dem „Ahnenerbe“ unternahm die SS seit 1935 den Versuch, ihren Elite- und Machtanspruch auch im Wissenschaftsbereich durchzusetzen. Der finanzielle Unterstützerkreis war groß: Der Hauptetat wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragen, die Dresdner Bank gab Kredite, Daimler Benz spendete eifrig, und Firmen wie Merck und Siemens lieferten wichtige Sachmittel. Mit dieser Wirtschaftsmacht im Rücken und mit den personellen Verbindungen zum gewichtigen Reichsfoschungsrat gelang es dem „Ahnenerbe“, enge Kontakte zu renommierten Wissenschaftlern zu knüpfen und sie für wehrwissenschaftliche Zweckforschungen zu gewinnen. Daß das „Ahnenerbe“ mit dem SS-Reichsführer Heinrich Himmler an der Spitze die Rolle des Beschaffers von „Menschenmaterial“ spielte, schreckte die beteiligte medizinische Elite nicht sie nutzten die einmalige Chance zum Experimentieren.

Die internationale Forschergemeinde blicke nicht entsetzt, sondern eher neidvoll auf die Entwicklungen im NS-Regime. So pries kurz nach 1933 eine britische Fachzeitschrift Hitler -Deutschland als Ort eines „gigantischen eugenischen Experiments“. Im Zuge solcher unverhohlenen Bewunderung wurde auch später tunlichst verschwiegen, daß der Fortfall ethischer Barrieren zu Erkenntnissen geführt hat, denen ganze Wissenschaftszweige ihre Entwicklungsschübe in den fünfziger und sechziger Jahren verdanken. Daß die Daten aus den unmenschlichen Experimenten in den KZ's von unschätzbarer Bedeutung waren, hatte das US-amerikanische Joint Intelligence Objektives Committee (JIOC) schon vor Kriegsende erfaßt. Friedrich Hansen recherchierte, daß das JIOC mit einem Personalstab, der zehnmal größer als der des Nürnberger Militärtribunals gegen NS-Verbrecher war, nach dem Sieg der Alliierten ein Dokumentenmaterial von einigen zehntausend Tonnen aufgespürt, verschifft und für die eigenen künftigen militärischen Operationen ausgewertet hat. Folglich waren wesentliche Ergebnisse der Menschenversuche bereits Bestandteil der „Kalten Kriegs„-Pläne, als die Westalliierten im Ärzteprozeß noch dabei waren, die entsetzlichen Experimente in den Konzentrationslagern zu verurteilen. Gleichzeitig gelangten in den Nachkriegsjahren mit Hilfe des Geheimdienstes CIA etwa 1.000 Nazi -Wissenschaftler in die USA. Sie waren damit nicht nur der gerichtlichen Verfolgung entzogen, sondern sie stellten beispielsweise die gesamten flugmedizinischen Forschungen des Dritten Reiches zusammen und machten sie für die US -Luftwaffe dienlich. Welchen Stellenwert die Menschenversuche im Nationalsozialismus wissenschaftsintern einnehmen, dokumentiert schon die Tatsache, daß die Überprüfung der mit verbrechererischen Experimenten erzielten Ergebnisse bis in die Gegenwart nicht abgerissen ist. Allein in den USA haben sich seit 1945 mindestens 45 wissenschaftliche Arbeiten mit Forschungsergebnissen aus den KZ-Experimenten befaßt.

Auch angesichts dieser desillusionierenden Fakten schätzt Hansen die Arbeit der Nürnberger Richter für bemerkenswert, weil sie einen Zehn-Punkte-Katalog über zulässige medizinische Versuche entwickelten, der für die Versuchspersonen ein hohes Niveau von Schutzgarantien gegen unmenschliche Experimente erreichte. Diese Regelungen, die bisher aus Angst vor dem Ausbleiben der Versuchspersonen nicht angewendet werden, sollten nach Hansen aufgegriffen werden bei der Suche nach Kriterien für die ethische Beurteilung aktueller Entwicklungen in der Medizin. Die Überlegungen könnten dazu beitragen, daß der Mensch nicht mehr „als Versuchskaninchen oder als chemisches Molekül betrachtet“ wird.

Daß es höchste Zeit ist, so eine Entwicklung anzutreiben, macht Heidrun Kaupen-Haas in ihrem Beitrag über die nationalsozialistischen Fundamente in der internationalen Konzeption der modernen Geburtshilfe deutlich. Als 1942 der Reichsärzteführer Leonardo Conti die Einführung der künstlichen Befruchtung von „hochwertigen“ unverheirateten Frauen vorschlug, schätzte selbst ein Heinrich Himmler dieses Vorhaben skeptisch als ein „unendlich heißes Eisen“ ein. Inzwischen allerdings erfreut sich trotz eugenisch -rassistischer Grundzüge das „Experiment Gen- und Reproduktionstechnologie“ - so Kaupen-Haas - einer weitgehenden Akzeptanz. Darüberhinaus eröffnet der Durchbruch in der Reproduktionsmedizin mit ihrem „Abfall“ von „überzähligen Embryonen“ dem Experiment am Menschen ungeahnte neue Dimensionen. Die Wurzeln für das Durchschlagen der neuen Fortpflanzungstechnologien analysiert Maria Mies in dem männlich-sexistischen Gewaltverhältnis gegen Frauen, das nahezu weltweit zu beobachten ist.

Die AutorInnen des Sammelbandes verlangen nach einer „neuen Tradition medizinischen Denkens“, das ethische Grenzen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen als Eckpfeiler zu berücksichtigen hat. Solange die rein naturwissenschaftliche Denkweise der Medizin die Richtung weist, gilt die Warnung des israelischen Wissenschaftlers Yehuda Bauer: Anläßlich des Mengele-Tribunals 1985 in Jerusalem und auch angesichts der Verbrechen in Auschwitz warf er die Frage unter seinen KollegInnen auf, „ob wir nicht einen gut ausgerüsteten Barbarismus selbst produzieren“.

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