: Massenflucht durch einen Tunnel
Journalist berichtet über Flucht aus dem Istanbuler Militärgefängnis / Vom März '88 155 Jahre Gefängnis für kritische Berichterstattung /Journalisten in Türkei im Hungerstreik ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Einen 37 Meter langen Tunnel haben sie gegraben, fünf bis sechs Meter unter der Erde. Der 35jährige Mustafa Yildirimtürk ist einer von 29 Gefangenen, denen im März die spektakuläre Massenflucht aus dem Istanbuler Militärgefängnis Metris gelungen ist. Gestern vormittag stellte er sich im gedrängt vollen Saal eines Stadtteilzentrums in Frankfurt der Öffentlichkeit. Über den Weg, den er in die Bundesrepublik genommen hat, mochte er nichts sagen. Er dementierte lediglich Berichte in türkischen Zeitungen, die kurz nach der Flucht gemeldet hatten, er sei nach Griechenland entkommen.
Er berichtete, daß die Vorbereitungen zur Flucht insgesamt zwei Monate und fünf Tage gedauert hätten. Die Gefangenen, die vier verschiedenen politischen Organisationen angehören, hätten keinerlei Hilfe von außen gehabt. Yildirimtürk, der kurzzeitig als Chefredakteur bei der sozialistischen Wochenzeitung 'Halkin Kurtulusu‘ arbeitete, war insgesamt über neun Jahre eingesperrt. Er sei „wie ein Terrorist“ verhaftet und dabei von zwei Schüssen verletzt worden. Nach einer Operation habe man ihn gleich ins Polizeipräsidium gebracht und dort 76 Tage lang immer wieder gefoltert. Seine aufgebrochenen Wunden seien zwischendurch immer wieder „wie bei einem Tier“ vernäht worden. Nach vier Jahren Haft habe er endlich sein Urteil erfahren: insgesamt 155 Jahre Gefängnis nur für seine journalistische Tätigkeit. Es seien ihm einzelne Beiträge in seiner Zeitung aufgerechnet worden, für einen einzigen staatskritischen Beitrag könne es bis zu 56 Jahren Gefängnisstrafe geben. Mustafa Yildirimtürk betonte ausdrücklich, er habe keine Gewalttaten begangen. Dies habe selbst das Gericht in seinem Urteil bestätigt.
Zusätzlich zu dem Bericht von Yildirimtürk legten die Veranstalter eine Sammlung von Fällen vor, in denen Mitarbeiter linker Zeitungen gefoltert und zu jahrhundertelangen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind. Sie wiesen darauf hin, daß diese Zeitungen in der Türkei zwar oft nicht verboten seien, aber regelmäßig beschlagnahmt würden und die Redakteure in den Gefängnissen landeten.
Seit Anfang der vergangenen Woche haben deshalb Redakteure und Mitarbeiter von vier linken türkischen Zeitschriften einen unbefristeten Hungerstreik begonnen. Der Streik habe sich auf mehrere Städte ausgeweitet und werde auch von der Schriftstellergewerkschaft und der sozialdemokratischen Volkspartei unterstützt. Yildirimtürk wird in der BRD einen Asylantrag stellen.
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