Über das Ende des Überlebens

Nachtrag zur Lage der Koalition / Der zeitlupenartige Zerfall der Regierung ist zugleich der Zerfall des bundesrepublikanischen Parteiensystems / Die Stärke von Kohl ist die Schwäche der Opposition / Einzig wirkliche Gefahr entspringt der CDU  ■  Von Klaus Hartung

Sommerpause. Es reicht schon, Zitate und Fakten sprechen zu lassen: Da forderte die Junge Union von Baden-Württemberg den Rücktritt des Kanzlers und Graf Lambsdorff setzte prompt nach: das müsse „ernst genommen“ werden. Die neue Sprachregelung der FDP-Politiker: die „Substanz der Koalition“ sei „noch nicht aufgebraucht“. Noch nicht, also bald. Die FDP spielt am Bruchpunkt herum und wünscht eine Kürzung des Wehretats und die Zurücknahme der Erdgassteuer. CDU-Politiker gehen in den Wahlkreisen auf Distanz zur Regierung.

Der Kanzlerwahlverein versucht sich als herummeuternde Partei. Der selbst schwer angeschlagene Ministerpräsident Albrecht verschafft sich Profil, indem er mit der ersten Abstimmungsniederlage der Regierung - die den Rücktritt Kohls bedeutet hätte - droht. Die Ratten studieren die Konstruktion des Schiffes.

Aber: aus der Dramatik dieser beschleunigten Dekomposition der Koalition entspringt nur ihr altbekannter Zustand. Neu nur ist, daß Koalitionspolitiker inzwischen die Sprache der linksliberalen Kritik übernehmen: Führungsschwäche, Regieren mit Küchenkabinetten und Elefantenrunden, Klientelismus um den Preis programmatischer Grundsätze. Seit dem Fall Wörner gilt Kohl als ein Kanzler ohne Fortune, aber mit Schwein.

Der inzwischen auch von den Linken leidvoll gerühmte Personalpolitiker Kohl verstand es zwar, Konkurrenten zu verheizen. Aber dieses Regierungssystem Kohl, mit angeschlagenen, weil fügsamen Ministern zu regieren, muß irgendwann Kohl fressen. Bei der Flugbenzinsteuer hat sich die Regierung nicht nur öffentlich als erpreßbar bewiesen, sondern auch anschließend gezeigt, daß die Erpressung vermeidbar war.

Die Steuerreform, Kernstück der Wendeideologie, ist beschlossen worden, aber politisch gescheitert. Sie bringt weder mehr Steuergerechtigkeit noch lichtet sie das Subventionsdickicht, noch reduziert sie die Steuerbürokratie. Statt ein Volk der Unternehmer zu motivieren, schwächt sie, indem sie die indirekten Steuern vermehrt, lediglich die Massenkaufkraft.

Nach dem Ende dieses vorletzten Reformprojekts läßt sich leicht voraussagen, was die Regierung in den letzten beiden Regierungsjahren noch bieten wird: die Öffentlichkeit wird laut mitzählen beim stehenden k.o.

Die Gesundheitsreform, das letzte Angebot, vollendet nur das Bild : Sie wird kein Gesundheitssystem für den autonomen Bürger sein, sondern schlicht nach dem Opportunitätsprinzip die Leistung der staatlichen Dienste verschlechtern. Ein überwältigendes Panorama des Scheiterns. Unter „normalen“ Umständen müßte das zu einer Regierungskrise führen.

Doch das eigentümliche und unvergleichliche an der gegenwärtigen Situation: Nicht programmatischer Streit um den Regierungswechsel herrscht. Vielmehr, eine bemerkenswert teilnahmlose, abwartende Öffentlichkeit quittiert Endzustände. Wichtiger als die Frage, wielange die Regierung Kohl noch überlebt, ist die Frage, warum konnte sie solange überleben? Warum hat nicht längst schon die Politik der wechselnden Mehrheiten begonnen?

Aber das Ende von Kohl ist nicht der Beginn von etwas Neuem. Die Koalition hat ohnehin, betrachtet man die politischen Felder vom Wohlfahrtsstaat bis zur Ostpolitik, lediglich einen instabilen Kompromiß zwischen sozialdemokratischer Politik und den besonderen Interessen ihrer Klientele organisieren könne, ein Unding eines sozialstaatlichen Thatcherismus.

Und je mehr diese Regierung Beute des Lobbyismus wird, desto mehr gerät sie mit den Lobbies aneinander. Je mehr sie die einen bedient, desto mehr muß sie andere vor den Kopf stoßen. Jetzt schon klagt die Industrieklientel, daß sie in sozial-liberalen Zeiten besser behandelt worden sei. Diese Regierung ist Ausdruck der politischen Entleerung, der programmatischen Kraftlosigkeit des bundesrepublikanischen Parteiensystems. Sie überlebte mithin nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Macht der Umstände, aus der Schwäche der Opposition.

Zwar bemühen sich jetzt die Parteien in aller Hast, allgemeine Koalitionsfähigkeit nachzuweisen. Aber keine Partei geht soweit, künftige Bündnisse aus den Reformerwartungen der Bevölkerung und Reformnotwendigkeiten der Gegenwart abzuleiten, obwohl beispielsweise der ganze Komplex der ökologischen Reformen breite Bündnisse, wechselnde Mehrheiten und eine umfassende Demokratisierung verlangt. Die parteipolitischen Optionen aber bleiben dürftig. Für eine sozialliberale Koalition fehlt 1988 jede programmatische Grundlage. Verglichen mit der FDP der einstigen sozial-liberalen Koalition, die immerhin noch die „Freiburger Thesen“ anbieten konnte, ist die heutige FDP ein Verein zerstrittener Karrieristen, der nur noch von der Angst vor dem Untergang zusammengehalten wird.

Die SPD will durch die Zersetzung der Koalition ihre Hoffnung auf eine „eigene Mehrheit“ stärken und den latenten Konflikt zwischen der Sozialstaatsfraktion und den Verfechtern der zivilen Gesellschaft vertagen. Die Grünen haben sich systematisch um die Koalitionsfähigkeit gebracht. Keine Partei wird ein Mißtrauensvotum bei Unterstützung der Grünen auch nur diskutieren wollen. Allein die verflossene rot-grüne Vision hätte jene Erschütterung und produktive Unübersichtlichkeit des Parteiensystems mit sich gebracht, das dem massenhaften Anspruch nach Einfluß entsprochen hätte. Das Projekt einer solchen Koalition hätte gerade nicht sozialdemokratische Machterhaltung, sondern vielmehr Eröffnung des Spiels wechselnder Mehrheiten mit sich gebracht.

Ginge es nach der Opposition könnte die Regierung Kohl weiter zerfallen und dennoch regieren. Die einzig wirkliche Gefahr, die ihr droht, entspringt der CDU, genauer ihrem schwelenden Widerspruch: einerseits drängt die CDU auf mehr Einfluß, auf demokratische Kontrolle gegen das System der Elefantenrunden. Die Partei will sich gegenüber der Regierung emanzipieren, will wählbar bleiben, giert nach Ideologie um so mehr, als sie wegen ihres Kanzlers schon längst nicht mehr wählbar ist. Andererseits bleibt sie Kanzlerwahlverein, der eine solche Emanzipation nicht zuläßt. Aber als Kanzlerwahlverein wiederum ist die Partei im Grunde noch gefährlicher für Kohl, denn so, wie seine Regierung überlebt hat, kann sie keinen Wahlkampf gewinnen. Der Widerspruch zwischen christdemokratischer Programmpartei und Kanzlerwahlverein wird - wahrscheinlich sehr schnell vorübergehend im Sturz Kohl versöhnt werden. Jetzt zeigen die Zitate aus dem CDU-Lager, daß sich die Fronde, die die Zeit für reif hält, vermehrt. Der Opportunist Kohl hat die Opportunisten gegen sich vereinigt.

Logisch, daß die kühne Oppositionspartei SPD jetzt die CDU zum konstruktiven Mißtrauensvotum aufforderte - ein schlagkräftiger Beweis, daß das Regierungssystem Kohl ein Allparteiensystem ist. Zur Machterhaltungspolitik des Kanzlers gehörte eben auch die Art, wie die SPD mit den Wahlen in Niedersachsen und Hessen die Bundesratsmehrheit verspielte, aus purer Angst vor neuen Koalitionen in der Bevölkerung. Das Negativ-Saldo ist ein Negativ-Saldo des Parteiensystems selbst: Entmutigung der Engagierten, Resignation der politisch Wachen, Zersplitterung allgemeiner Interessenlagen von Ökologie bis zur Strukturpolitik, Verschleppung abrüstungspolitischer und ostpolitischer Chancen bis hin zu Erblasten a la Jäger 90, Airbus und Transrapid. Etcetera. Sollten die beschworenen Katasstrophen Ende des Jahrhunderts eintreffen, werden wir mit scharfer Wehmut noch an die paradiesischen Zeiten denken, wo wir uns einen Kohl leisten konnten - jenen säkularen Pausenclown, dessen biedere Überlebenskunst uns ganz vergessen ließ, daß die Zeit drängte.