: In Bayern zum Gebären verpflichtet
Verdacht auf vorgefertigte Richtersprüche bei Paragraph-218-Verfahren in Bayern / Knapp 200 Frauen in Memmingen verurteilt / Notlagenindikation wird per Rechtssprechung durch die Hintertür ausgehöhlt ■ Aus München Susanne Petz
Das Memminger Amtsgericht hat knapp 200 Frauen bei Paragraph -218-Verfahren zu Geldstrafen zwischen 900 und 3.000 Mark verurteilt. Da die Urteile nahezu gleich lauten, drängt sich den bayerischen Grünen der Verdacht auf, daß die Richtersprüche vorgefertigt waren. Im Allgäu werde versucht, die im Paragraph 218 festgelegte Notlagenindikation für Schwangerschaftsabbrüche durch die Rechtssprechung auszuhöhlen oder gar zu beseitigen, erklärten die Grünen vor der Presse in München. Eine von oben verordnete einheitliche rigide Rechtssprechung bei Paragraph-218-Verfahren vermutet die Landtagsabgeordnete Margarete Bause auch wegen der für solche Straftaten vorhandenen Berichtspflicht der Staatsanwaltschaft an das Justizministerium. Ferner seien, was die Justizministerin allerdings bestreitet, bei Freisprüchen die Staatsanwälte angewiesen, in die nächste Instanz zu gehen.
Ins Rollen kam die Memminger Prozeßlawine 1986 mit der Beschlagnahmung der Patientenkartei des Frauenarztes Dr.Horst Theissen, der anonym denunziert wurde, weil er Abbrüche ambulant und ohne Einhaltung des Instanzenweges vornahm. Seitdem wurden von der örtlichen Staatsanwaltschaft 355 Ermittlungsverfahren aufgenommen. Theissen wurde gegen eine Kaution von 300.000 Mark aus der Untersuchungshaft entlassen. Den Frauen wird vorgeworfen, daß sie den normalen Instanzenweg zur Indikationsstellung nicht eingehalten haben. Daß sie den weniger entwürdigenden, kürzeren Weg wählten, hängt auch wieder mit den bayerischen Verhältnissen zusammen: In Memmingen gibt es nur eine Caritas -Beratungsstelle, und für den in Bayern vorgeschriebenen stationären Abbruch in einem Krankenhaus (den staatliche Kliniken dort nicht vornehmen) hätten sie nach München fahren müssen.
Von einer Ausnahme abgesehen hätten sämtliche Frauen der Memminger Verfahren bei Einhaltung der vorgeschriebenen Prozedur die soziale Indikation erhalten. Trotzdem haben nur zirka zehn Frauen gegen den Strafbefehl Widerspruch eingelegt, eine einzige ging nach dem erstinstanzlichen Urteil in die Berufung. Wer das einen solchen Prozeß begleitende Geschwätz der Leute in der Allgäuer Kleinstadt auf sich genommen hätte, wäre durch die Haltung der Staatsanwaltschaft abgeschreckt: Diese ging, so der Bericht des Frauenarztes, grundsätzlich davon aus, daß 90 Prozent der sozialen Indikationen nicht stichhaltig sind. Soziale Notlagen erkannte das Gericht zum Teil mit Hinweisen auf die in der Zeit nach dem Abbruch verbesserte Situation der Frauen nicht an. Entsprechend der in Bayern geplanten Änderung des Adoptionsrechts (ein Kind soll danach bereits vor der Geburt zur Adoption freigegeben werden) warfen die Richter den Frauen vor, daß sie das Kind „lieber umgebracht“ haben, als es für eine Adoption auszutragen.
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