: Kurdistans verbrannte Erde
Seit vier Jahren verweigert Irak jedem Journalisten die Reise in den Nordirak, wo die kurdische Bevölkerung zwischen den Fronten zerrieben und vernichtet wird Reportage aus einem Gebiet, das durch Brandrodung, Giftgas und Umsiedlung zur strategischen „Todeszone“ umfunktioniert wird / Jeder Waffenstillstand kommt zu spät ■ Aus Bagdad Issam Maarouf
Der deutsche Leser lebt in einer Welt, wo viele Menschen viel besser leben als sie sind. Die Welt ihres Lebens ist eine des Erfolgs. Zu berichten ist aus einer Welt, wo die Menschen sehr schlecht leben, aber besser sind als sie leben. Ihre Welt ist die Welt einer Würde. Kurdistan kennt man nicht in der BRD, die Kurden schon: von jeder nächsten U -Bahnstation oder aus Berichten über Asylantenlager am Stadtrand.
Auf ihre Heimat trifft man, wenn man das fruchtbare Zweistromland von Euphrat und Tigris, von Bagdad kommend, in Richtung Norden verläßt. Mesopotamien, die erste agrarische Hochkultur der Welt, liegt brach: die Bauern sind Soldaten im Golfkrieg und ihr Staat importiert fast alles, was gebraucht wird, aus anderen Ländern. Die beiden strategischen Straßen in den Norden sind übersät mit den Wracks schwerer Laster und Transporte: Folgen bewußt eingeleiteter Unfälle ihrer Fahrer, die dadurch dem Militärdienst entgehen wollten und lieber in den Knast gingen. Jetzt verfügt ein neues Dekret der Zentralregierung in Bagdad: erst Militärdienst für die ganze Dauer des Krieges, dann Gefängnis.
Was die Straße in Richtung auf die Ölmetropole Kirkuk sonst noch bietet? Südafrikanische Perspektiven. Dutzende von Wehrdörfern für die zwangsevakuierten Kurden, aus Fertigteilen hastig in die weiten kurdischen Täler gebaut. Davor und dahinter plattgewalzte traditionelle Siedlungen bis zur Stadt Dokan, am gleichnamigen Staudamm, einem strategischen Ziel der iranischen Armee. Die Provinzstadt Dokan ist genauso gnadenlos evakuiert worden wie über 4.000 andere Dörfer und Städte mit ihren sicherlich eine Million Menschen in ganz irakisch Kurdistan. Ein Ergebnis der zwölfjährigen strategischen Arabisierung des Landes, wo demographisch, geographisch, kulturell und politisch nichts mehr an Kurdistan erinnern soll. Eine breite Todeszone, offiziell so genannt, komplettiert das Bild und durchzieht das Land entlang der Grenze zum Iran: von Quasr Shirin bis zur Stadt Zakho unweit der Türkei.
Kurdistan erscheint kohlrabenschwarz. Ein Militärbefehl ordnete das systematische Abbrennen aller Berge an: der uralten, langsam wachsenden Steineichen, der Mandel- und Granatäpfelbäume, der seit Generationen mühselig terrassierten Weinpflanzungen. In den Tälern unterbricht nur das Glimmen der strohgedeckten Lehmhütten der ausgelöschten Dörfer die Schwärze. Angeblich, um die Bewegung der kurdischen Guerilla zu verhindern, geht es viel eher darum, den Bauern dauerhaft jegliche Existenzgrundlange zu nehmen. Die ökologischen Folgen scheren das einzig an seiner Machterhaltung orientierte Regime in Bagdad nicht: die Berge bilden das Wasserreservoir des Mittleren Ostens, ihre planmäßige Erodierung bedeutet eine gewollte Naturkatastrophe ersten Ranges. Der Einsatz von chemischen Kampfstoffen gibt den Menschen und ihrem Land den absoluten Rest. Aus dem traditionellen Ethnozid an den Kurden ist ein tendenzieller Genozid geworden.
„Darf völlig frei geschossen
werden“
Einige profitieren davon. Der irakische Außenminister gesteht anläßlich seiner Visite dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland den Einsatz von Giftgas - und erhält auf der Stelle weitere Kredite des Landes, das die Anwendung ächtet, die Technologie zu seiner Herstellung aber liefert.
Ab Suleimaniya gleicht die Autostraße einem Heerlager des ersten Weltkriegs. Auf 30 Kilometer Distanz nahtlos aneinandergereiht die Kriegsmaterialien aller reichen Herren Länder: die rückstoßfreien Kanonen von Steyer-Puch (Österreich), brandneue Iveco-Magirus-Ambulanzen (Italien/BRD), die IFA-Militärlaster (DDR) und dazwischen die eiligen Kuriere auf den MZ-Motorrädern aus dem anderen Deutschland. Hier ist die Nordfront des Krieges zwischen Irak und Iran. Die kurdischen politischen Parteien haben sich auf die Seite des Iran geschlagen. Widerwillig und zähneknirschend, und, wie mir Anhänger der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) versichern, aus „Überlebensgründen“. An die 25.000 bewaffnete Peshmerga-Soldaten („Die dem Tod ins Auge schauen“), die im wesentlichen der PUK und der Demokratischen Partei Kurdistan/Irak (DPK) angehören, fesseln mit ihren Aktivitäten hier immerhin zwei von insgesamt sieben irakischen Divisionen. Ihr iranisches Bündnis ist Reflex auf die flächendeckende Vernichtung der kurdischen Zivilbevölkerung, die in einem Ukas des Obersten Kommandeurs im „Büro für Angelegenheiten des Nordirak“ zum Ausdruck kommt, der seit dem 22. Juni 1987 in Kraft ist:
1. Alle Dörfer, in denen noch Saboteure, Anhänger des Iran, Verräter des Irak und Ihresgleichen leben, werden als sicherheitsgefährdende Dörfer betrachtet.
2. Die menschliche Existenz und der Viehbestand in den oben erwähnten Dörfern werden zu Todeszonen erklärt und es darf völlig frei und ohne Rücksicht geschossen werden.
Zweckbündnis mit Iran
In dem langgestreckten Golan-Tal, nahe der Stadt Ranya, mit seiner üppigen Vegetation treffe ich auf einige der Parteien. Daß diese Gegend längst noch nicht vom Bagdader Regime kontrolliert wird, beweist ein langdauerndes nächtliches Gefecht. Knapp vor dem Morgengrauen stürzen, nach unentschiedener Schlacht, die PUK-Peshmerga an mir vorbei, machen dann doch Rast, um ihre Verwundeten mit Wasser zu versorgen. „Was verbindet Euch mit Eurer Heimat, mit Kurdistan?“, lautet meine Frage. „Das sind tausend blutige Stricke, Herr, tausend blutige Stricke.“
Die Patriotische Union Kurdistan hat die Hauptlast des Krieges auszuhalten und befindet sich in arger Bedrängnis. Auch die PUK-freundlichen Bewohner von Golan haben die Habseligkeiten schon gepackt, sind teilweise schon über die nahen Berge in den Iran geflüchtet, nachdem das irakische Militär den drohenden Giftgasangriff definitiv ankündigte. Ein Großteil der PUK-Peshmerga hat sich in den höheren Norden des Irak zurückgezogen, logiert nun im Barzani-Gebiet der Demokratischen Partei, während der weiter südlich verbliebene Rest einzig noch mit logistischer Unterstützung der Teheraner Regierung operieren kann.
Die PUK-Leute sind wenig optimistisch, verweisen auf die Zweckform des Bündnisses mit der islamischen Regierung und lassen durchblicken, daß es in jüngster Zeit erhebliche Auseinandersetzungen mit den „iranischen Freunden“ gegeben habe. Die Unstimmigkeit zirkuliere um militärstrategische Fragen. Die Iraner wollten unbedingt ihre Geländeverluste an der Südfront im Norden mit Hilfe der Kurden wieder wettmachen, die dabei zwischen allen Fronten zerrieben würden. Dabei komme es den Iranern ganz und gar nicht auf den Schutz der kurdischen Zivilbevölkerung an, an deren weiterer Existenz der PUK aus nur zu verständlichen Gründen aber gelegen sein muß.
Tatsächlich ist die Situation der PUK in diesem Gebiet verzweifelt: sie blickt auf ein Terrain plattgewalzter Dörfer, verfügt demzufolge kaum noch über ein sympathisierendes Umfeld und eine eigenständige Inlandslogistik. Lediglich clandestine Kontakte in den großen Städten erbringen einen Rest von Infrastruktur. Vor allem sind auch ihre medizinischen Einrichtungen, ihre Feldlazarette, über die sie bis vor kurzem in befreiten Gebieten noch verfügte, längst der Vernichtung preisgegeben, so daß auch ihre Verwundeten nur ungenügend versorgt werden können.
Am Ende
Auch die jüngsten Unternehmungen von Celal Talabani, dem Chef der PUK, belegen die große Not der kurdischen Organisationen: Eine Allianz mit der türkisch-kurdischen PKK des Abdullah Öcalan unterzeichnete Talabani fast zur selben Zeit, wie er sich in den USA um Unterstützung bemühte mit dem Ziel, die Bedrängnis von allen Seiten, den kurdischen Knoten, wenigstens soweit zu lösen, daß ein endgültiger Völkermord abgewendet werden kann. Daß es höchste Zeit ist, mehr als nur taktische Kurskorrekturen einzuleiten, resultiert auch aus dem allgemein bekannten miserablen Zustand der iranischen Armee, die sich angesichts auch im Norden bevorstehender Offensiven der Iraker schlicht im Zustand des „Leergeschossenseins“ befindet.
Die Mitglieder der sozialistischen Organisation Komala, die als iranische Oppositionsgruppe ebenfalls im Golan-Tal eines ihrer Lager aufgeschlagen hat und die ihre islamischen Feinde genau kennt, berichtet darüber Profundes: Es gebe keine vernünftige Planung mehr in der iranischen Armee. Dafür den Widerstreit diverser Truppenkommandeure der Armee und der Elitetruppe der Revolutionswächter. Pasdaran -Offiziere seien dabei, illegal und mit Hilfe von Schmugglern militärisches Gut über die Grenze in den Irak zu verhökern. Es werde seit langem gegenüber der Führung in Teheran mit gefälschten Zahlen und Erfolgsmeldungen gearbeitet. Andererseits hat der Irak, wovon ich mich mühelos überzeugen konnte, in den letzten drei Monaten gewaltige Mengen an Offensivmaterial vor allem östlich von Sulaimaniya konzentriert. Auch scheint die Moral der irakischen Truppe besser als zuvor, nachdem auch die Ernährung und die medizinische Betreuung eine deutliche Veränderung zum Positiven erfuhr. Von daher rechnet man auf der Seite des kurdischen Widerstands damit, daß auch die Stadt Halabdschah in Kürze wieder zurückerobert werden kann.
Im iranischen Kurdistan
Die politische Landkarte Kurdistans verkompliziert sich dadurch, daß ein Teil des Landes im Iran liegt. Dort befindet sich die marxistisch-leninistische Komala (kurd.: „Organisation“) im sozialen, politischen und militärischen Kampf gegen die islamische Regierung in Teheran. Ihr Schwerpunkt ist das Gebiet um die nordiranische Stadt Sanadaj, wo sie sich anders als im eher bäuerlichen irakischen Kurdistan auf die städtischen Arbeiter zu stützen bemühen.
Eine erhebliche propagandistische Rolle spielt der auch in der BRD gut hörbare Kurzwellensender „Komala“, den ich in einem verwinkelten Tal im Irak besuchen konnte. Das Radio hat im Iran etwa eine Million Hörer und Hörerinnen, die sich auf dessen Informationen weit mehr verlassen als auf die Sendungen der offiziellen Teheraner Medien. Am 14.Mai 1988 kam es auf dem Areal von „Radio Komala“ zu einem furchtbaren Giftgasangriff der irakischen Armee, der 23 Menschen tötete und 183 Mitglieder der Organisation verletzte. Wochen später „entschuldigte“ sich die irakische Armeeführung für die „versehentliche“ Attacke auf die bestens identifizierbare Einrichtung. Da „Komala“ nicht davon abläßt, beide Seiten zur sofortigen Beendigung des Golfkrieges aufzurufen, sind eben auch sie Geduldete zwischen den Fronten.
Gasangriff
An Ort und Stelle, die Bäume vom Gas entlaubt oder braunblättrig, berichtete man mir von der Taktik des Einsatzes der chemischen Wurfkörper, die ich erstmals fotografieren konnte. In zwei Wellen erfolgt der Angriff mit den irakischen Mirage. Zuerst werden konventionelle Explosivstoffe gezündet, um die Betroffenen in dichte Schutzbunker und Unterstände zu jagen. Danach folgt unmittelbar die Gasattacke, um möglichst die Menschen in den sauerstoffarmen Höhlen oder Bunkern zu treffen. Das Gas ist schwerer als Luft und sinkt rasch zu Boden. In halber Höhe der Täler und Hügel werden die toxischen Kampfstoffe deshalb disloziert, weil nach dem ersten Angriff als einzige Schutzmaßnahme die rasche Flucht auf die Höhen bleibt. Mehrere der „Komala„-Leute sind derart regelrecht in die Gaswände hineingelaufen.
100 Liter aerosolhaltiger Kampfstoff sind in einem Kanister enthalten, dessen Inhalt sich besonders an kalten Tagen rasch auf einer Fläche von 500 Quadratmetern ausbreitet. Das Gas ist weitgehend unsichtbar und geruchlos. Auch hörbar ist so gut wie nichts. Der Aufschlagzünder am Kanisterboden ist von geringer Brisanz, nur ein leichtes „Plop“ ist vernehmbar, bevor das tödliche Gas auf diversen Perforierungen planmäßig austritt. Der chemische Inhalt wird laufend modifiziert und verändert, selbst die Form der Wurfkörper wird systematisch variiert - um jede Chance der präventiven Abwehr zu verhindern. 2.000 Tonnen hochgiftiger Substanz jährlich stellt der Irak zur flächendeckenden Verwendung derzeit her, nicht nur für die Front, sondern zum Einsatz gegen die eigene Zivilbevölkerung. Produziert wird das Gift unterirdisch mittels automatischer Abfüllstraßen. In einem Wüstengebiet bei Samarra, auf dessen Oberfläche sich die Ruinen der Residenz des antiken Königs Hammurabi befinden, welcher der Rechtskultur der Menschheit einen ersten kodifierten juristischen Vergleichsmaßstab lieferte: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“
Die 30 Meter tiefen Produktionsstätten könnten heute jederzeit von hochwirksamen iranischen Bomben erreicht und getroffen werden. Die Hauptwindrichtung des Gebietes weist auf die Metropole Bagdad. Den Kurden mangelt es akut an Indikatoren, an „Papierdetektiven“, wie sie sagen, die chemische Auskunft geben über das Vorhandensein von Gas und seine Zusammensetzung. Längst gibt es solche Prüfindikatoren als digitale elektronische Geräte: Aber die Regierungen, die den Aufbau der Giftgasproduktion des Irak ermöglichen, verweigern die Ausfuhr. So bleiben Gasmasken, ABC -Schutzanzüge der Bundeswehr, Atropin-Spritzen und einiges an medizinischem Gerät, das dringend gebraucht wird, das teuer geworden ist, weil die Preise verbrecherischer Zwischenhändler nach dem Ereignis von Halabdschah überall in die Höhe schossen.
Die verwundeten Kurden der PUK, die ich am Morgen nach ihrer schweren Schlacht mit der überlegenen irakischen Armee im Golan-Tal treffe, erkundigen sich höflich nach meiner Herkunft. Kurdistan kennt man nicht in der Bundesrepublik, und Kurden genießen im routinierten Zweifelsfall hier kein Recht auf Asyl - aber die Kurden wissen jetzt wenigstens, was sie von Deutschland zu halten haben. „Habt Ihr ihnen nicht das Gas geliefert?“, fragt mich einer der Verletzten. „Könnt Ihr dann nicht wenigstens auch das liefern, was unsere Frauen und Kinder zum Schutz benötigen?“
Weitere Informationen zu Kurdistan und Unterschriftslisten gegen den Giftgaseinsatz sind kostenlos erhältlich bei medico international, Obermainlage 7, 6 Frankfurt 1, Telefon 069/4990041. Spenden für Giftgasschutzanzüge: medico, Konto 1800 Stadtsparkasse Ffm. oder Postgiro Köln 6999-508 Stichwort „Kurdistan“.
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