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EIN BESUCH BEI PHILIP MARLOWE

■ Ein Interview zum 100. Geburtstag von Raymond Chandler

Er hatte ein Büro im Cahuenga Building. Die kleine, dunkle, enge Eingangshalle war schmutzig wie ein Hühnerhof. Auf der Tafel mit den Namen der Mieter gab es viel leeren Platz. Der einzige Name, der mir etwas sagte, war mir bereits bekannt.

Es gab zwei Fahrstühle mit offenen, vergitterten Schächten, aber nur einer schien in Betrieb zu sein und auch das nicht allzu heftig. Ein alter Mann saß darin mit herunterhängender Kinnlade und trüben Augen, auf einem zusammengefalteten Stück Sackleinwand auf einem Holzhocker. Er sah aus, als sitze er seit dem Sezessionskrieg so da, und als habe er diesen schlecht überstanden.

Ich stieg zu ihm ein und sagte „Sechster“, und er zog stöhnend die Schiebetür zu und setzte seinen Kasten in Betrieb und wir zuckelten nach oben.

Das Büro ging nach hinten raus, zwei kleine Zimmer. Eines war offen, damit sich ein geduldiger Klient hinsetzen konnte, falls er einmal einen geduldigen Klienten hätte. An der Tür war ein Summer, den er von seinem privaten Meditationsraum aus ein- und ausschalten konnte.

Ich blickte ins Wartezimmer. Es war niemand und nichts drin, nur der Staubgeruch. Durch die gegenüberliegende Tür drangen jene kleinen Geräusche, die ein Mann macht, wenn er gar nichts macht. Ich ging rüber und öffnete die Tür.

Drei harte Stühle und ein DrehStuhl, ein flacher Schreibtisch mit einer Glasplatte, fünf grüne Aktenordner, drei davon völlig leer, ein Kalender und eine gerahmte Lizenz an der Wand, ein Telefon, ein Waschbecken in einem fleckigen Holzkasten, ein Garderobenständer, ein Teppich, der schlecht und recht den Fußboden verdeckte, und zwei offene Fenster mit Netzgardinen, die wie die Lippen eines zahnlosen Greises hin und her geweht wurden.

Dasselbe Zeug, das er im letzten Jahr gehabt hatte und im Jahr vor diesem. Nicht schön, nicht heiter, aber besser als ein Zelt am Strand.

Sie sind Marlowe?

Er nickte und sah ungefähr so interessiert aus wie ein Loch in einer Wand.

Ich bin etwas enttäuscht. Ich habe eigentlich etwas mit schmutzigen Fingernägeln erwartet.

Kommen sie herein. Sie können auch im Sitzen geistreich sein.

Liegt bei ihnen immer ein Revolver auf dem Schreibtisch rum?

Wenn er nicht unter meinem Kopfkissen ist. Oder unter meiner Achsel. Oder in der Schreibtischschublade. Oder irgendwo, wo ich mich dann nicht mehr erinnern kann, wo er grad ist. Hilft ihnen das weiter? Wollen wir jetzt mit dem Interview anfangen, oder erst noch ein bißchen rumalbern?

Okay Mr. Marlowe. Wie würden sie ihren Job Privatdetektiv beschreiben.

Es gibt Fälle, bei denen ich vielleicht einen Aushilfsfriseur namens Dimitrios Aleidis suche, weil seine Frau gesagt hatte, daß sie ihn ganz gerne wieder zu Hause hätte und dafür auch ein paar Dollar springen lassen würde. Meistens finde ich ihn nicht und Mrs. Aleidis zahlt mir nie auch nur einen Dollar.

Und dann gibt es Fälle, bei denen ich jeden Tag mehr oder weniger zufällig eine Leiche finde. Pro-Tag-ein-Mord -Marlowe, so könnte man mich dann nennen. Und am besten wär's, man schickte mir den Leichenwagen hinterher, wenn ich meinem Beruf nachgehe. Eigentlich bin ich ein ganz netter Kerl, fast genial auf meine Art. Also im großen und ganzen nichts aufregendes.

Privatdetektiv zu sein ist nie aufregend?

Ich bin ein zäher Bursche, einsachtzig groß und aus Eisen. Nackt und mit gewaschenem Gesicht wiege ich hundertneunzig Pfund. Harte Muskeln und das Kinn nicht aus Glas. Ich bin niedergeschlagen worden, habe mir den Hals würgen lassen, mir mit Revolverknäufen das Kinn polieren lassen, bis ich dumm und dämlich war. Man hat mir solange O in die Venen geschossen, bis ich beknackt war wie eine Maus, die Walzer tanzt. Und worauf läuft alles hinaus? Auf Routine.

Warum bleiben sie dann dabei?

Was einen dazu bringt, bei so einem Job zu bleiben, weiß kein Mensch. Man wird nicht reich dabei, und viel Spaß macht er einem auch nicht oft. Manchmal wird man zusammengeschlagen, oder es wird nach einem geschossen, und manchmal landet man im Knast. Einmal, nach mehr oder weniger langer Zeit, muß man dran glauben. Jeden zweiten Monat faßt man den Entschluß, den Kram hinzuschmeißen und sich einen vernünftigen Beruf zu suchen, dem man ohne dauerndes Kopfschütteln nachgehen kann. Dann ertönt der Türsummer, und man öffnet die Innentür zum Wartezimmer, und da steht dann ein neues Gesicht mit einem neuen Problem, einer neuen Bürde Kummer und einem kleinen Batzen Geld.

Sie haben sich vorhin als 'ganz nett‘ charakterisiert...

Ja, aber so sehr ich mich auch anstrenge nett zu sein immer habe ich am Ende meine Nase im Dreck und meinen Daumen jemand aufs Auge gedrückt.

Sieht so aus, als ob ich jede Menge Schwierigkeiten kriegen würde, sollte ich sie engagieren.

Wenn sie mich engagieren, kriegen sie allen Takt, den ich habe. Wenn ich nicht genug Takt habe, dann engagieren sie mich vielleicht besser nicht.

Wie stehen sie zu Frauen?

Als ich jung war, konnte man ein Mädchen noch in Ruhe ausziehn. Heute liegt es schon im Bett, wenn man noch an seinem Kragenknopf rumfummelt.

Sie mögen's aber auch nicht, wenn sie zu schüchtern sind.

Ich mag schnieke, geschnatzte Mädchen, ausgekocht und sündenbeladen. Mädchen, durch die man in der chemischen Reinigung landet, aber heutzutage sehen die Frauen aus zehn Meter Entfernung wie einsame Spitzenklasse aus. Aus drei Meter Entfernung sehen sie wie etwas aus, was nur aus zehn Meter Entfernung gesehen werden sollte.

Sie bevorzugen ja wohl Blondinen.

Es gibt solche Blondinen und solche, das ist heutzutage fast schon ein geflügelter Witz. Alle Blondinen haben ihre Mucken, mit Ausnahme vielleicht nur der wasserstoffblonden, die jenseits der Chemie so blond sind wie ein Zulu und von Gemüt so glatt wie ein Bürgersteig. Da gibt es das kleine süße Blondchen, das piepst und zwitschert, und die große statuenhafte Blondine, die nur einen ihrer eiskalten Blicke braucht, um einen auf Distanz zu halten. Da gibt es die Blondine, die hinreißend zu einem aufschaut und ebenso hinreißend duftet und schimmert und einem am Arm hängt und die dann immer so sehr, sehr müde ist, wenn man sie heimbringt.

Da gibt es die sanfte und willige Blondine mit dem Hang zum Alkohol, der ganz egal ist, was sie anhat, solange es nur Nerz ist, oder wohin man mit ihr geht, solange es nur das Starlight Roof ist und der trockene Champagner in Strömen fließt. Da gibt es die kleine kesse Blondine, die ein bißchen bleich ist und für sich selber zahlen will und voll Sonnenschein und Mutterwitz steckt und Judo gelernt hat und einen Lastwagenfahrer mit einem Schulterschwung aufs Kreuz legt, ohne dabei mehr zu verpassen als einen Satz aus dem Leitartikel im Saturday Review. Da gibt es die blasse, sehr blasse Blondine, die an einer zwar nicht tödlichen, aber unheilbaren Form von Anämie leidet. Sie ist sehr schwach, fast nur ein Schatten ihrer selbst, und spricht ganz leise aus dem Nichts, und man kann sie nicht einmal mit dem kleinen Finger anfassen, weil man das erstens gar nicht will und weil sie zweitens gerade „Das wüste Land“ liest oder Dante im Original oder Kafka oder Kierkegaard oder Provenzalisch studiert.

Und schließlich gibt es da die Superblondine, das Prachtstück zum Vorzeigen, das drei Klassegangster hinter sich bringt und dann ein paar Millionäre heiratet, und am Ende eine hellrosa Villa am Cap d'Antibes hat, einen Alfa Romeo der Luxusserie, komplett mit Fahrer und Beifahrer und einen ganzen Stall voll abgelebter Aristokraten.

Ihre große Liebe war allerdings schwarzhaarig. Warum haben sie Linda Loring nie geheiratet? Sie hat ihnen ja wohl die Ehe angeboten.

Für zwei Menschen über hundert ist die Ehe wunderbar. Der Rest plagt sich bloß damit ab. Nach 20 Jahren ist alles, was einem Mann noch bleibt, die Werkbank in der Garage. Außerdem wäre ich bloß eine Episode für sie gewesen. Die erste Scheidung ist die einzige, die einen mitnimmt. Danach ist's nur ein ökonomisches Problem, also für sie keins.

Könnten sie sich vorstellen als Polizist zu arbeiten?

Manchmal denke ich drüber nach, wie ich mich fühlen würde, wenn ich ein Polizist in einer Mordabteilung wäre und ständig Leichen fände und dabei überhaupt nicht aus der Fassung geriete, wenn ich nicht wegschleichen und Türklinken abwischen müßte, um Spuren zu verwischen, wenn ich mir nicht den Kopf zerbrechen müßte, wieviel ich den Bullen erzählen kann, ohne einem Kunden weh zu tun und wie wenig, ohne mir selber allzu sehr weh tun zu lassen. Immer komme ich zu dem Schluß, daß es mir nicht gefallen würde.

Sie haben anscheinend keine besonders gute Meinung über Bullen.

Nein. Bullen haben wachsame und wartende Augen, geduldige und vorsichtige Augen, kühle, hochmütige Augen, eben Bullenaugen. Die kriegen sie beim Abschlußexamen auf der Polizeischule. Und damit sehen sie einen an und sagen einem nie, warum sie irgendwas machen. So kriegt man wenigstens nicht spitz, daß sie's selber nicht wissen.

Mit Gefängnissen haben sie nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht.

Es ist gar nicht so schlecht da. Man trifft nicht grad die allerbesten Leute, aber wer will das schon.

Beschreiben sie das doch etwas näher.

Man sitzt auf der Pritsche und wartet. Es gibt nichts, was man sonst machen könnte. Es bleibt einem nichts als zu schlafen, wenn man kann, als zu rauchen, wenn man etwas zu rauchen hat und als zu denken, wenn man etwas zu denken hat, was einen nicht noch elender macht als das Nachdenken überhaupt.

Im Gefängnis hat der Mensch keine Persönlichkeit. Er stellt nur ein geringfügiges Verwaltungsproblem dar und eine Handvoll Einträge auf Formblättern. Kein Mensch interessiert sich dafür, wer ihn liebt oder haßt, wie er aussieht, was er mit seinem Leben angefangen hat. Niemand geht auf ihn ein, es sei denn, er macht Ärger. Niemand mißhandelt ihn. Es wird nichts weiter von ihm verlangt, als daß er ruhig zur richtigen Zelle geht und ruhig bleibt, wenn er dort ist. Es gibt nichts, wogegen man sich wehren, nichts, worauf man wütend sein könnte. Die Gefängniswärter sind ruhige Männer ohne Feindschaft oder Sadismus. All das Zeugs, das man manchmal liest, über Männer, die toben und schreien, gegen die Gitterstäbe schlagen, mit Löffeln daran herumlärmen, worauf die Wachen mit dem Gummiknüppel hereingestürzt kommen - Schwachsinn. Ein gutes Gefängnis ist einer der ruhigsten Orte der Welt.

Sind sie Patriot, Mr. Marlowe?

Die USA sind nicht schlechter als jedes andere Land, sieht man mal davon ab, daß man in unserem Land ein wichtiges öffentliches Amt durchaus auf Lebenslänge pachten kann, ohne dafür andere Qualifikationen mitzubringen als eine Nase, die nicht in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt wird, ein photogenes Gesicht und einen sich selber haltenden Mund.

Sie trinken ziemlich gern und alle ihre Geschichten enden mit einem Drink, mit Alkohol. Warum?

Haben sie schon einmal gesehen wie ein Mann lächelt, dem man etwas zu trinken gibt, und er braucht genau das sehr dringend, und der erste Schluck schmeckt genau richtig und ist wie ein Blick in eine sauberere, sonnigere, strahlendere Welt?

Ja schon, aber so einfach ist es auch nicht. Es gibt jede Menge Alkoholiker.

Mit dem Alkohol ist es wie mit der Liebe. Der erste Kuß ist magisch, der zweite vertraut, der dritte schon Routine. Danach zieht man das Mädchen aus.

Vielen Dank für das Gespräch.

Ach Scheiße, trinken wir einen.

Er zog seine Büroflasche aus der unteren Schublade.

Thomas Winkler

Chandler im Regenbogenkino, dieses und nächstes Wochenende Fr, Sa, So jeweils 23 Uhr.

Blues for Mr. Chandler - Lesungen, Theater, Jazz heute und morgen um 21 Uhr.

Chandler im Filmkunst 66 ab Sonntag jeweils 23 Uhr.

Öffentliche Gangster-Fete am Samstag in der Bülowstraße 52, 2. Hinterhof.

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