: Das Eigentor
■ Zum Verhältnis von Kronzeugengesetz und Amnestie / Ein Beitrag von Christof Wackernagel
Wenn in der vorletzten Woche ein neues Kronzeugengesetz im Bundesrat eingebracht werden konnte, ohne daß - wie noch ein Jahr zuvor - die (Medien-) Öffentlichkeit dagegen protestiert, dann macht das deutlich, daß der Zeitgeist ein weiteres, bislang selbstverständliches Axiom gesellschaftlichen Bewußtseins für sich gewendet hat:
Verrat, in allen Zeiten und Gesellschaften eine der verachtenswertesten menschlichen Handlungsweisen, ist akzeptabel geworden, kein Grund zur Erregung. „Wer einmal in einer politischen Gruppe war und erfahren hat, welch ein Druck von ihr auf Einzelne ausgeübt werden kann, der wird Verständnis haben für einen Dmytryk, der sie loswerden wollte und darum verriet“, artikulierte sich z.B., bezogen auf die McCarthy-Zeit in den USA, das heute opportune Verhältnis zu Verrat unter der Überschrift „Verräter und Verratene“ im Feuilleton der taz am 9.7.'88, während in ihrem Nachrichtenteil gemeldet wurde, daß die Kronzeugenregelung die erste parlamentarische Hürde genommen habe. Ein Volk, ein Reich, ein Zeitgeist.
Legalisierung der gängigen
Praxis
Bereits Anfang der 70er Jahre wurde vom damaligen (sozialdemokratischen) Bundespräsidenten Heinemann der erste Kronzeuge der Roten Armee Fraktion, Karl-Heinz Ruhland, zum Lohn für seine Aussagen begnadigt; der für die Ankläger der RAF wichtigste Kronzeuge, Gerhard Müller, kam Mitte der 70er Jahre aufgrund entsprechender Anpassung der Anklageschrift nach wenigen Jahren frei (auf der Basis seiner Aussagen erhielt Irmgard Möller, zunächst zu viereinhalb Jahren verurteilt, in einem zweiten Prozeß lebenslange Haft), Ende der 70er Jahre schließlich wurden Hans-Joachim Dellwo und Volker Speitel nach kurzer Haft entlassen, nachdem sie Material für die offizielle Version der Stammheimer Todesnacht vom 17./18.10.1977 geliefert hatten - mit dem Kronzeugengesetz soll also nur eine bereits seit Jahren funktionierende Praxis der Verfolgungsbehörden legalisiert werden.
Bemerkenswert daran ist weniger das damit sichtbar werdende Maß moralischer Verkommenheit der Regierenden als das der Regierten. Die Strategie der RAF, den Staat durch die Reaktion auf die eigenen Aktionen zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, verkehrt sich so fatalerweise in ihr Gegenteil: Dieses Volk zeigt sein wahres Gesicht - es kommt eben immer anders als man denkt.
Ein hochinteressanter
Widerspruch
Es ist jedoch müßig, sich über den Wertezerfall in der Linken im besonderen und die Schlechtigkeit der Welt im allgemeinen aufzuregen, und man könnte diesen neuesten Sieg des Zeitgeistes mit „schlimm, schlimm, aber es gibt Schlimmeres“ kommentieren, gäbe es in dem Teil des Gesetzesentwurfs zur Konzeugenregelung nicht einen hochinteressanten Widerspruch, der die ganze Diskussion um Stammheim und Sicherheit, Gefangenenbefreiung und Staatsraison, Amnestie und Rechtsstaat vom Kopf auf die Füße stellt:
Als die Rote Armee Fraktion 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt hatte - und später ein palästinensisches Kommando die Lufthansa-Maschine -, um ihn gegen elf gefangene Genossen auszutauschen, lehnte der aus Vertretern aller Parteien bestehende Krisenstab der Bundesregierung diesen Handel ab, nahm den Tod Schleyers in Kauf und ließ es eher zu einer der größten Krisen der Nachkriegsgeschichte kommen, als Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Irmgard Möller, Ingrid Schubert, K.H. Dellwo, Bernd Rössner, Hanna Krabbe, Werner Hoppe, Verena Becker und Günter Sonnenberg in ein Land ihrer Wahl fliegen zu lassen. Das zentrale Argument der damals Verantwortlichen für diese harte Haltung war nicht etwa, man könne sich dies wegen der vier erschossenen Bewacher Schleyers nicht leisten, war nicht einmal - auch wenn es als unterstützendes Argument immer wieder genannt wurde -, man dürfe sich einer Erpressung nicht beugen, und es war schon gar nicht die Befürchtung, es gäbe dann neue Aktionen - im Gegenteil: Andreas Baader hatte in einem Gespräch mit einem Beamten des Bundeskanzleramts garantiert, nicht mehr in die Bundesrepublik zurückzukehren. Er hatte sogar vor der dann tatsächlich eingetretenen Entpolitisierung und Brutalisierung der folgenden RAF-Generation gewarnt, wenn die Orientierung an den Gründern der RAF nicht mehr gegeben sei; heute weiß man, daß die Phase der RAF, wie sie von 1972 -77 praktiziert worden war, mit dem Austausch der Gefangenen ein Ende gehabt hätte; das zentrale Argument war stärker als selbst eine solche Perspektive: Man könne unter keinen Umständen Gefangene freilassen, die wegen Mordes verurteilt seien, die Substanz des Rechtsstaats sei sonst in Gefahr, ein friedliches Zusammenleben der Gesellschaft danach nicht länger möglich.
Bedingungslose Freilassung
aller Gefangenen
Ähnlich wird heute von staatlicher Seite gegen den 1984 von Wolfgang Pohrt (und später von Christa Nickels und Antje Vollmer) gemachten Vorschlag einer Amnestie der politischen Gefangenen argumentiert, obwohl die Hysterie, die in den 70er Jahren noch jeden vernünftigen Gedanken erwürgte, inzwischen eher von einem allgemeinen Desinteresse an diesen Fragen verdrängt wurde, und obwohl es inzwischen sogar bis in weite Kreise der liberalen und kirchlichen Öffentlichkeit unumstritten ist, daß die Urteile gegen die RAF rechtsstaatlich unhaltbar sind; insbesondere die geradezu an gotteslästerlichen Wahn erinnernden fünf- und achtfachen „Lebenslang„-Urteile gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Verglichen mit der auch von Teilen der Grünen Bundestagsfraktion erhobenen Forderung, diese Urteile zu überprüfen, wäre die Amnestie eine wesentlich elegantere Perspektive - statt dessen wurde die Entlassung von Klaus Jünschke letztes Jahr nach der gesetzlichen Mindestfrist von 15 Jahren mit dem Argument abgelehnt, die „Schwere der Schuld“ verbiete dies. Und das in einer Situation, in der die Freilassung derjenigen, die sich von der RAF getrennt haben, sowieso eine Selbstverständlichkeit sein sollte und man sich in Bezug auf die anderen Gefangenen heute nicht einmal mehr auf eine Zusicherung von Andreas Baader verlassen müßte, sondern jeder Mensch, der politisch zwei und zwei zusammenrechnen kann, weiß, daß nach einer bedingungslosen Freilassung aller politischen Gefangenen es auf absehbare Zeit keine Aktionen wie z.B. gegen Gerold von Braunmühl geben würde, allein schon, weil die Gefangenen und ihre unhaltbaren Haftbedingungen dann nicht mehr als eine Rechtfertigung der Aktionen herhalten könnten.
Heilige Prinzipien werden
für nichtig erklärt
Ruft man sich all dies ins Gedächtnis, ist die Überraschung um so größer, wenn man im Gesetzesentwurf für die Kronzeugenregelung einen Passus findet, nach dem auch des Mordes Verurteilte oder Angeklagte unter gewissen Umständen freigelassen werden können.
Mit dem sprichwörtlichen Federstrich werden also Prinzipien für nichtig erklärt, um deren Einhaltung willen vorher sogar Tote in Kauf genommen wurden. Neugierig geworden betrachtet man sich besagte Umstände näher: “...insbesondere im Hinblick auf die Verhinderung künftiger Straftaten“ kann „von der Verfolgung ab(ge)sehen“ werden - Ziel der Regelung ist also genau das, was das Ergebnis eines Austauschs 1977 gewesen wäre und was das Ergebnis einer bedingungslosen Freilassung aller politischen Gefangenen heute wäre.
Nur meinen die Autoren des Gesetzesentwurfs etwas anderes. In einer Mischung aus Dummheit und Unverschämtheit phantasieren sie eine Situation, in der eine von höchstens fünf Personen, die von einer geplanten Aktion der RAF oder einer anderen bewaffnet kämpfenden Gruppe wissen, plötzlich sagt: „Ach, jetzt arbeite ich doch lieber mit der Polizei zusammen.“ Dumm und unverschämt spekulieren sie darauf, Mißtrauen und Verunsicherung zu erzeugen und damit sogenannte Fahndungserfolge zu erzielen - und erzeugen doch nur einen weiteren Grund, diesen Staat bis ins Mark zu verachten - was für manche ein Grund mehr sein wird, ihn bewaffnet zu bekämpfen - erzeugen doch nur (wie das Beispiel Italien gezeigt hat, wo das Kronzeugengesetz bereits wieder abgeschafft ist) Mord und Totschlag, denn Verräter gibt es immer, auch ohne ein Gesetz, durch das sie aufgewertet werden; kurz, sie erzeugen - in ihrer eigenen Terminologie gesagt - die Begehung künftiger Straftaten.
Aber Dummheit und Unverschämtheit haben ihren Preis. Von dem Moment an, in dem dieses Gesetz rechtsgültig sein wird, kann kein Mensch mehr behaupten, die Forderung nach Amnestie der politischen Gefangenen sei „unrealistisch“. Im Gegenteil, das größte Hindernis - nämlich das Verbot der vorzeitigen Freilassung des Mordes Angeklagter oder Überführter - ist vom Gesetzgeber selbst freundlicherweise aus dem Weg geräumt worden. Es muß dann nur noch dieses klargestellt werden: nicht Gefangene oder Illegale müssen etwas „offenbaren“ (wie es im Gesetzesentwurf heißt), damit es nicht mehr zu bestimmten Aktionen kommt, sondern es kommt zu solchen Aktionen nicht mehr, wenn Gefangene oder Illegale selbst „offenbar“, also in Freiheit, sind. „Es liegt somit zunächst an den staatlichen Institutionen und nicht an den Gefangenen oder Illegalen, ob die sinnlose Aktion-Reaktion -Spirale sich weiter dreht oder nicht. So sicher mit den Regelungen des Kronzeugengesetzes der erwünschte 'Rechtsfrieden‘ nicht eintreten wird, so sicher wird er das nach einer Amnestie tun.“
Insofern ist der Gesetzgeber dabei, ein Eigentor zu schießen, zumal die Beschränkung - eine Sondergesetzgebung, an die sich zu gewöhnen man bereits versucht ist - exakt auf die politischen Gefangenen zielt; man darf gespannt zusehen, wie der Ball im Tor landet, um von da an die bedingungslose Freilassung der politischen Gefangenen fordern zu können, und zwar aller.
Die leidige
Amnestie-Debatte
Damit wird auch die leidige Debatte, die im letzten Jahr leider völlig daneben ging - Amnestie nur für sogenannte „Aussteiger“ oder alle? - endlich obsolet:
Amnestie nur für die , die sich bereits von der Gruppe getrennt haben, wäre nicht nur politisch - und begrifflich unsinnig, sondern hätte für die nicht amnestierten Gefangenen eine weitere Verschärfung ihrer Situation zur folge. Dazu kommt, daß nach dem Strafvollstreckungsgesetz Gefangene, deren „Sozialprognose günstig“ ist, ohnehin entlassen werden müssen. Und selbst die Entlassung von Gefangenen wie Angela Speitel, die das gesetzliche Mindestmaß für die Freilassung - 2/3 der Urteilshöhe oder 15 Jahre bei Lebenslänglichen - noch nicht erreicht habe, wäre allenfalls das Signal, das die Entlassung von Klaus Jünschke vor ein paar Wochen nicht war.
Nur wenn explizit diejenigen freigelassen werden, die sich zum RAF-Zusammenhang zählen (im Knast sind das nur Worte: Warum soll man ihnen das Vergnügen nicht lasen, es gibt noch Dümmeres), kann die Bedingung für eine Neuorientierung für alle geschaffen werden, einzeln oder in Gruppen: solange noch ein einziger Gefangener „nach §129a“ im Gefängnis sitzt, wird die alte Politik der RAF fortgesetzt werden, egal wie überholt sie ist, denn daß diese Politik mit Polizeiknüppeln und Isolationshaft nicht zu zerschlagen ist, ist nach 15 Jahren genauso evident wie ihr politisches Scheitern.
Obsolet würde damit endlich auch die Entwicklung, die sich in einer Vielzahl von linken und liberalen Medien an der Person Peter-Jürgen Book anzeigt: Verständnis für den Mitläufer. Abgrundtiefes Verständnis für den, der „nur Logistiker“ war, „nur Techniker“ - eine grausame Wiederholung im Land der Mitläufer und Eisenbahnlogistiker, die auch nie wußten, wohin die Züge wirklich fuhren. Wenn das Verständnis der Öffentlichkeit sich in dieser Weise verfestigt, wenn gar die politische Neuorientierung eines ehemaligen RAF-Mitglieds nur dann akzeptiert wird, wenn sie sich in einem solchen Verhältnis zur eigenen Vergangenheit äußert, dann wird es noch schwerer sein, das, was jetzt möglich werden sollte, zu erreichen, weil es dann noch eine Hürde mehr zu überwinden gibt - die überflüssigste überhaupt.
Das Ritual des Abschwörens
Obsolet würde mit der uneingeschränkten Freilassung aller politischen Gefangenen auch die, nach den ersten, noch offenen Amnestie-Debatten Anfang 1984, zur Bedingung für eine Entlassung gewordenene öffentliche Distanzierung von der ehemaligen eigenen politischen Position. An diesem zum Ritual erstarrten Verfahren, das jede vernünftige - und notwendige - Debatte über die Politik der RAF unmöglich macht, ist übrigens nicht nur der Staatsschutz, sondern auch die Linke schuld: wenn jede RAF-kritische Äußerung eines Gefangenen, die vielleicht nur eine längst überfällige Debatte weiterbringen soll, von großen Teilen der Linken als taktisches Manöver verstanden wird, aus dem Knast zu kommen, bleibt einem Gefangenen natürlich nichts anderes übrig, als zu schweigen. Und solange die Bundesanwaltschaft diese öffentliche Erklärung als alleinigen Beweis für die Glaubhaftigkeit des Gefangenen ansieht, bleibt er eben sitzen oder es kommt zu Peinlichkeiten wie z.B. das Interview Siegfried Haags in der FR, in dem er erklärt, daß seine darin gemachten Äußerungen nur den Zweck haben, freizukommen. Stefan Wisniewski zum Beispiel würde eher bis zum jüngsten Gericht unter den übelsten Bedingungen im Knast hocken bleiben, als einer geilen Öffentlichkeit insbesondere einer linken - Texte und Überlegungen preiszugeben, die sie doch nur, egal wie differenziert sie sein mögen, satt schmatzend als „Abschwören“ beklatschte. Erst wenn tatsächlich auch Stefan Wisniewski, Bernd Rössner, Verena Becker u.v.a. ohne dieses würdelose Verfahren freikommen, ist das Signal gegeben, von dem heute soviel gesprochen wird und das die uneingeschränkte Amnestie aller politischen Gefangenen einleiten könnte.
PS:: Es ist Tradition, seit es staatliche Gebilde gibt, zu deren Gründungsjubiläum Gefangene zu entlassen. Nächstes Jahr werden immense Summen aus dem Fenster geschmissen werden, um eines der überflüssigsten Gebilde dieser Art, die Bundesrepublkik Deutschland, zu feiern. Die Amnestie aller politischen Gefangenen wäre eine legitime Würdigung dieses Tages.
Christof Wackernagel, ehemaliges Mitglied der „Rote Armee Fraktion“ wurde 1977 nach einer Schießerei mit Polizisten in Amsterdam verhaftet und 1980 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ende 1987 kam Wackernagel nach Verbüßung von 2/3 seiner Haftzeit frei.
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