: Reicht euch auf Sylt noch einmal die Hände
30.000 beteiligen sich an „Sylter Menschenkette“ / Protestveranstaltungen auch an Schleswig-Holsteins Westküste / Umdenken und Eigeninitiative bei Sylter Geschäftsleuten / Intaktes Ökosystem für Fremdenverkehrswirtschaft notwendig ■ Aus Sylt Olaf Stampf
Fast ein Postkartenmotiv: Es ist dunstig, eine leichte Brise weht vom Meer her, nur mäßige Brandung, zwei Möwen schreien
-und am Strand stehen Menschen, soweit das Auge reicht, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur. Sie huldigen dem geschundenen Meer. Rund 30.000 Menschen, Urlauber, Einheimische und angereiste Naturfreunde demonstrieren am Sonntag mit der „Sylter Menschenkette“ gegen den katastrophalen Zustand der Nordsee. Es tritt ein, was kaum jemand ernsthaft erwartet hatte: Um 12 Uhr ist die Kette am 40 Kilometer langen Weststrand der größten deutschen Nordseeinsel praktisch geschlossen.
Zeitgleich finden an der gesamten schleswig-holsteinischen Westküste Protestveranstaltungen statt: „Hunderttausende“ (Westerlands Bürgermeister Volker Hoppe) nehmen an Umweltgottesdiensten, Mahnwachen und weiteren Menschenketten teil. Gemeinderäte halten Sondersitzungen ab. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde der Nordsee-Aktionstag auf die Beine gestellt. Die Kommunen mischten kräftig mit Naturschutzorganisationen und Nordseebäderverband hatten gemeinsam zur Teilnahme aufgerufen. „Eine neue Qualität“ im Öko-Engagement der Tourismusbranche hat Silke Petersen, die Geschäftsführerin des Nordseebäderverbandes, deshalb ausgemacht.
Der Tag auf Sylt beginnt feierlich: Pastor C.Bornemann zelebriert im Freien einen Gottesdienst. Gleichzeitig treffen am Bahnhof die verschiedensten Gruppen ein, ein kunterbuntes Spektrum: Umweltschützer, Parteienvertreter, Tierschützer, Friedensinitiativen, Privatleute. Per Bus werden sie an die dünnbesiedelten Stellen gefahren, wo Lücken drohen. Mitarbeiter der Kurverwaltungen stehen über Funk miteinander in Kontakt und geben die heiklen Punkte per Radiosender weiter. Gruppen aus ansässigen Jugendheimen übernehmen den weiten Strandabschnitt zwischen Hörnum und Rantum - Betreuer haben mit ihren Schützlingen schon Tage vorher Stehproben durchgeführt. Strandkorbwächter geben vor Ort mit Hilfe von Megaphonen Kommandos.
„Das Theater bringt sicher nichts“
Die Urlauber machen in überraschender Zahl mit, finden es gut, ein Zeichen zu setzen, „daß es mit der Verschmutzung der Nordsee ein Ende“ haben müsse. Dennoch überwiegt bei den meisten die Skepsis. „Das Theater Menschenkette bringt sicher nichts“, sagt einer, „aber gut finde ich es trotzdem.“ Ganz Sylt hat sich seit Tagen auf die Menschenkette vorbereitet: Lokalzeitungen rührten die Werbetrommel, die Gemeinden der Ferieninsel riefen zur Teilnahme an der Demonstration auf. Die Kurverwaltungen hängten Plakate auf und warfen Flugblätter in die Sylter Briefkästen - Öko-Tips für Haushalte inklusive. Außerdem wiesen die Kurdirektoren ihre Sportanimateure und Strandkorbwächter an, zusammen mit Umweltschützern den Aufbau der Menschenkette zu organisieren.
Bevor der Fremdenverkehr auf den Demo-Zug mitaufspringen wollte, war allerdings ein längerer Lernprozeß vonnöten: „Vor zwei Jahren wurden wir attackiert, wenn wir bloß von verendeten Seevögeln sprachen“, berichtet ein Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer. Noch im Frühjahr wurde der Vorschlag einer Sylter Menschenkette im Gemeinderat von Westerland abgebügelt. Daraufhin gründete sich eigens eine Bürgerinitiative und meldete die Demonstration im Alleingang an. Erst der „öffentliche Druck“ angesichts immer neuer Katastrophenmeldungen habe den Klimaumschwung bei den Insel -Oberen bewirkt, gesteht „Menschenketten-BI„-Sprecher Gerd P.Werner. Seit kurzem beobachten Umweltschützer nun Erstaunliches: In Eigeninitiative haben Sylter Geschäftsleute beschlossen, sich Verkaufsbeschränkungen bei umweltschädigenden Produkten aufzuerlegen.
Der Traum von weiteren spektakulären Aktionen
Daß sich plötzlich „Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft die Hände reichen“, beeindruckt dann auch Westerlands Bürgermeister Volker Hoppe (CDU), zugleich Vorsitzender des Nordseebäderverbandes.
Bei der anschließenden Kundgebung auf der Kurpromenade kann er sich „weitere spektakuläre Aktionen zusammen mit Umweltschutzverbänden“ gut vorstellen, damit das Thema „nicht nach Saisonende unter den Tisch fällt“. Hoppe kämpferisch: „Nicht Reden, Handeln ist das Gebot der Stunde!“
Auf der gleichen Veranstaltung betont Schleswig-Holsteins Umweltminister Berndt Heydemann, daß häufig nicht ein Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie bestehe, sondern Wirtschaftszweige mit den unterschiedlichen Interessen kollidierten. Er verweist hier auf die Fremdenverkehrswirtschaft in den norddeutschen Küstenländern mit 27 Millionen Übernachtungen, rund 2,5 Milliarden Mark Umsatz, allein 60.000 Arbeitsplätzen in Schleswig-Holstein und einem entsprechend großen Interesse an intakten Küsten -Ökosystemen. Heydemann nimmt am Nachmittag an der zusätzlichen Kundgebung der „Bürgerinitiative Menschenkette“, der SPD, der Grünen, der Friedensbewegung und Greenpeace vor dem Westerländer Rathaus teil.
Währenddessen bereiteten sich die Kurdirektoren schon auf ihre Abfahrt nach Bonn vor, wo sie zusammen mit Umweltschutzverbänden ein Forderungspaket an den Bund, das Land Schleswig-Holstein und die Gemeinden vorlegen wollen.
Im Marschgepäck befindet sich auch eine Unterschriftenliste gegen die Nordseeverschmutzuung. Diese lag in letzter Zeit an exponierter Stelle aus - beim Kurkartenkontrolleur.
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