: Wir wollen nach Libyen auswandern
■ Ein Brief an die ständige Vertretung Libyens in Ost-Berlin
Liebe Genossinnen und Genossen,
wir wenden uns an Euch, weil wir die in diesem Land herrschenden kapitalistischen Zustände nicht mehr für ertragbar halten. Wir möchten deshalb in Euer Land einreisen und dort bleiben.
Wir halten es für geboten, uns direkt an Euch zu wenden, da es Euch aus politischen Gründen ja versagt wurde, eine angemessene Vertretung in der BRD einrichten zu können. Wir werden innerhalb der nächsten Wochen mit allen möglichen Mitteln versuchen, die deutsche Staatsbürgerschaft abzulegen, um somit die Voraussetzungen zu schaffen, an der Weltrevolution mitarbeiten zu können.
Wir sind im Alter zwischen 24 und 29 Jahren. Zur Zeit sind wir in den Trakten bundesdeutscher Gefängnisse inhaftiert. Aufgrund unserer jeweils individuellen Erfahrungen sind wir zu dem Entschluß gekommen, unserem Leben eine sinnvolle Aufgabe zu geben.
Schon seit Jahren beobachten wir mit ständig anwachsender Betroffenheit, wie sich die Strukturen des weltweiten Imperialismus ausweiten und verschärfen. Dazu gehören sowohl die soziale Verelendung (Länder der dritten Welt), weiterhin Akte totalitärer Aggression (wie z.B. Interventionen auf Falkland etc.) und vieles mehr.
Schon im Angriff imperialistischer Einheiten auf das Herz der Weltrevolution, nämlich Libyen, machte uns deutlich, daß wir nicht mehr bereit sind, dies mitzutragen.
Angesichts der bestehenden Zustände, der Ausweitung des Klassensystems etc. sind wir zu dem Entschluß gekommen, uns zur Mitarbeit an der Erreichung des revolutionären Ideals zu verpflichten.
Was können wir Ihnen anbieten. Neben einer ausreichenden Erfahrung über das, was Kapitalismus ist, was für Folgen er hat und wie er sich insgesamt auswirkt, wissen wir auch um die Gefährlichkeit solcher angeblich als Demokratie ausgerichteten Staaten, deren tatsächliches Ziel weder die Gleichheit der Menschen ist, noch deren gesicherte Zukunft. Vielmehr zeugt der Aufbau solcher Staaten wie auch der BRD davon, daß beabsichtigt ist, weltweit ein Klassensystem einzurichten, das unterteilt ist in eine kleine Gruppe von Herrschenden und eine Masse von Beherrschten. Wir sind bereit, in Ihrem Staat an dem Aufbau und der Erweiterung der Revolution mitzuarbeiten.
Unsere Ideale sind vielschichtig, wie auch unsere jeweils individuellen Möglichkeiten. Seitdem wir uns im Gefängnis befinden, hat sich für uns verdeutlicht, wie die Strukturen tatsächlich beschaffen sind. Wer nicht bereit ist, diese Politik mitzutragen, wird ausgegrenzt und dann in solchen Institutionen wie Knast etc. in der Regel an die Linie des Staates angepaßt.
Neben dem Instrument der Gehirnwäsche wird insbesondere bei revolutionären Gefangenen aus politischen Bereichen das Ziel verfolgt, diese zu zerbrechen. Dieses Ziel wird bei den sogenannten sozialen Gefangenen verfolgt. Wir, die wir uns dagegen auflehnen, werden ständig mit besonderen, deshalb aber auch durchschaubaren Maßnahmen belegt.
Einer von uns ist jugoslawischer Staatsbürger, der aber auch begriffen hat, daß der sogenannte dort geübte Sozialismus tatsächlich nur Bestandteil einer Tradition ist, die sich daran orientiert, die Massen ruhig zu halten und darüberhinaus einer weltweiten Aggression Vorschub zu leisten. Einer von uns ist 21 Jahre alt und insbesondere den bereits erwähnten Maßnahmen unterworfen.
Sie möchten uns bitte die notwendigen Unterlagen für eine Aufnahme zusenden. Lieber Genosse, liebe Genossin, wir werden mit gleichem Datum an die Regierung der BRD schreiben und um eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft bitten.
Mit den besten Wünschen auch für den Genossen Muhammer.
H.K., U.D., G.T., V.J., T.H. B.P., Schwalmstadt
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