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Es wird wieder in die Hände gespuckt ...

Kritik am Bruttosozialproduktkonzept als Wohlstandsindikator / Vorschlag der Grünen für ökologische Reichtumsmessung  ■  Von Thomas Werres

Das Bruttosozialprodukt (BSP), der Geldwert aller jährlich geschaffenen Güter, bleibt als alleiniger Wohlstandsindikator unangetastet. Eine Relativierung der klassischen Sozialproduktrechnung, insbesondere ihre Erweiterung um die ökologischen und sozialen Folgekosten des Wirtschaftens, wie sie die Grünen gefordert hatten, wird es weiterhin in den Jahreswirtschaftsberichten nicht geben. Diese Auskunft erhielt jetzt die Bundestagsfraktion der Grünen und deren wirtschaftspolitischer Sprecher Peter Sellin im Rahmen einer Kleinen Anfrage. Die Begründung: Nach Ansicht der Bundesregierung machen methodische Probleme bei der Quantifizierung eine solche Ergänzung „nicht sinnvoll“. Peter Sellin: „Die Bundesregierung möchte sich offensichtlich ungestört an der Formel 'Wir steigern das Bruttosozialprodukt!‘ berauschen!“

Der neuerliche parlamentarische Vorstoß der Grünen in Sachen Veränderung des Erfolgsmaßstabes von Wirtschaftspolitik wurde durch eine von Christian Leipert am Berliner Wissenschaftszentrum vorgenommene Erfassung von ökologischen Folgekosten des Wirtschaftswachstums angeregt. In Leiperts Studie wird erstmals die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einer ökologischen Kritik unterzogen und die im BSP versteckten Wohlfahrtsverluste detailliert berechnet. Das Ergebnis: Mindestens zehn Prozent des Sozialprodukts sind nicht Wohlfahrtsgewinne, sondern Wohlfahrtsverluste.

Daraus ein Beispiel unter vielen: Verkehrsunfälle. Wenn zwei Autos aufeinanderprallen, tauchen die entsprechenden Arzt-, Werkstatt-, Rechtsanwalts- und Versicherungskosten in der Sozialproduktrechnung auf. Schäden des umweltbelastenden Produktionsprozesses, die nicht repariert werden, erfaßt die BSP-Rechnung dagegen überhaupt nicht. Der deutsche Wald beispielsweise wirft, bedingt durch die Luftverschmutzung, jährlich rund 1,2 Milliarden Mark weniger als unter gesunden Umweltbedingungen ab. Doch mitnichten fließt dieser Wohlfahrtsverlust als Minus in die BSP-Rehnung ein. Dieser Wertverlust wird einfach unterschlagen.

In Leiperts Studie werden nicht die gesamten, sondern lediglich die im BSP verdeckten Folgekosten entschlüsselt. Danach enthielt das Sozialprodukt 1985 insgesamt knapp 160 Milliarden Mark sogenannte „defensive Kosten“, Kosten also, die verausgabt wurden, um alte Lebensqualität wiederherzustellen. Von den 160Milliarden entfallen allein ein Drittel auf die Folgekosten von Verkehrsunfällen und Verkehrswegeausgaben (Straßenbau, Autos und deren Unterhalt), die durch verlängerte Arbeits-, Ausbildungs-, Einkaufs- und Freizeitwege entstehen. Der Grund: Unsere Siedlungsweise in Ballungszentren. Hier entsteht ein normaler Pendlerverkehr. Das betrifft die Fahrt ins Grüne ebenso wie den Weg zur Arbeit. Mehr als ein Drittel aller bundesdeutschen Arbeitnehmer muß beispielsweise eine Strecke von mehr als zehn Kilometern zum Arbeitsplatz zurücklegen.

Über 40 Milliarden des BSP sind defensive Gesundheitsausgaben bedingt durch sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Krebs- oder Herz- und Kreislauferkrankungen. Weitere 12 Milliarden entstehen durch Mehrausgaben bei Mieten und Bodenpreisen in Ballungsräumen im Vergleich zur Provinz. Für den Bereich der inneren Sicherheit veranschlagt Leipert knapp 20 Milliarden. Schließlich haben Staat und Wirtschaft 33Milliarden Mark direkt für die Reparatur von Umweltschäden ausgegeben.

Die Lawine rollt unaufhaltsam: Leipert hat berechnet, daß zwischen 1970 und 1985 die Defensivkosten viermal so schnell gewachsen sind wie das BSP als Ganzes. Diese Zahlen könnten, eine Einsichtsfähigkeit der Politik unterstellt, ein ganzes System ins Wanken bringen: Die Gleichsetzung von gesellschaftlicher Wohlfahrt mit wirtschaftlichem Wachstum oder der rhetorische Hinweis mit präventiver Umweltpolitik. Das hieße auch, das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ der keynesianischen Ära und die wirtschaftspolitische Leitlinie der Wachstumsrate als Orientierungspunkt für Profitmargen und Lohnforderungen in Frage zustellen. Die Aufnahme der Folgekosten ins BSP käme der Schlachtung einer heiligen Kuh gleich.

Allen Abwiegeleien der Bonner Koalition zum Trotz: Eine derartige Umweltberichterstattung wird zukünftig vorgenommen werden müssen. Erste Anzeichen sind zu registrieren. Im Statistischen Bundesamt wird an der ergänzenden statistischen Datenerfassung zum Umweltschutz und zur Umweltverschmutzung gearbeitet. Mit ihrem Vorhaben, Folgekosten des Wirtschaftens im Jahreswirtschaftsbericht zu beziffern, finden die Grünen auch in der CDU Unterstützung. Kurt Biedenkopf bezeichnete den Vorschlag als „erwägenswert“. Er sei mit den Grünen einer Auffasssung, daß „die dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zugrundeliegenden Überlegungen jedenfalls zum Teil als überholt angesehen werden müssen“, heißt es in einem Brief Biedenkopfs an die Grünen. Ebenso befürwortet der CDU-Politiker eine von den Grünen beantragte Anhörung zum Thema im Wirtschaftsausschuß. Über den Antrag wird Mitte September entschieden werden.

In der grünen Partei gibt es mittlerweile aber viele Vorstellungen, die weit über das Konzept einer ökologischen BSP-Rechnung hinausgehen. Einige Grüne Bundestagsfrauen fordern vom Parlament, daß künftig auch die unbezahlte Haus und Familienarbeit, die sie auf 1,1 Billionen Mark oder 60 Prozent des traditionellen BSP beziffern, in die Sozialproduktrechnung einbezogen wird.

Das herkömmliche BSP-Konzept hätte dann endgültig ausgedient.

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