piwik no script img

Stalin-Kritik in Polen veröffentlicht

■ Geheime Chruschtschow-Rede zur Politik Stalins von 1956 wurde erstmals offiziell in Polen abgedruckt / Rede war schon damals als internes Parteidokument übersetzt / Die sowjetische Parteizeitung 'Prawda‘ hatte am Dienstag die Politik Stalins verteidigt

Warschau (dpa/taz) - Die in der Sowjetunion noch immer unter Verschluß gehaltene Geheimrede Nikita Chruschtschows vor dem 20.Parteitag der KPdSU ist erstmals in Polen offiziell veröffentlicht worden. Chruschtschow hatte in seiner Ansprache am 25.Februar 1956 während einer Sitzung des Parteitags hinter verschlossenen Türen schonungslos mit der Politik Stalins abgerechnet. In ihrer neuesten Ausgabe druckte die Wochenzeitung 'Polityka‘ auf vier Seiten den vollen Text ab.

Die Zeitung betont, Chruschtschows Kritik am Stalinismus sei ein „Akt von großem politischen Gewicht“ gewesen. Er habe sich allerdings darauf beschränkt, Erscheinungen zu kritisieren, ohne die wahren Ursachen bloßzulegen. Nach dieser Rede „konnte es keine Rückkehr zu einem Machtsystem geben, das sich auf Massenmorde und Repressionen stützte“.

Die Veröffentlichung der Geheimrede dürfte nach Ansicht von Beobachtern nicht ohne Absprache mit den höchsten Parteigremien in Warschau erfolgt sein. Auch der Zeitpunkt der Druckgenehmigung - wenige Tage nach dem Besuch von Michail Gorbatschow in Polen - sei kein Zufall.

Die Rede Chruschtschows war 1956 in Polen durchaus kein Geheimnis. Die 'Polityka‘ erinnert daran, daß am 21.März 1956 die neue polnische Parteiführung - nach dem Tod des Stalinisten Boleslaw Bierut und nur wenige Tage nach einem Besuch Chruschtschows in Warschau - beschloß, die Geheimrede ins Polnische zu übersetzen und in einer nummerierten Auflage als internes Parteidokument zu veröffentlichen. Über Warschau gelang der Text dann in den Westen. Der polnische Text ist bis heute die einzige offizielle Version des geheimen Referats.

Die Rede wurde damals nur wenige Monate lang auf Parteiversammlungen vorgelesen und diskutiert. Ende 1956 wurde die Verbreitung aber wieder eingeschränkt, die Rede verschwand in den Archiven. In Warschau hat die Veröffentlichung jetzt großes Aufsehen erregt. Erst am Dienstag war in der sowjetischen Parteizeitung 'Prawda‘ die Politik Stalins mit einer Polemik gegen den Stalin -kritischen Historiker Jurij Afanasjew verteidigt worden. Der hatte in einem Artikel in derselben Ausgabe seine Ansicht bekräftigt, daß die sowjetische Gesellschaftsordnung als eine Folge der „Konterrevolution“ Stalins keine sozialistische sei und daß die Chancen der Reformpolitik Gorbatschows in einem Rückgriff auf „nicht realisierte“ und „alternative“ Möglichkeiten aus der Zeit vor Stalin lägen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen