: Die unter uns allen herrasende Ferne
■ Zeitzeichen aus dem Urlaub: die Qual, die Straße und die Menschen
Wir hatten ein hellgrünes Auto, in dem wir über die Fahrbahnen in die südlichen Länder verreisten. Wenn wir rasteten, sahen manche der am Ort befindlichen Menschen den Innenraum unseres Fahrzeuges durch die verschlossenen Fensterscheiben, von dem eingelagerten Reisegepäck und verstreuten Mitnehmseln bunt ausgefleckt. Das Kind, das auf seinem Sicherheitssitz über der Rückbank wie auf einem Foltersitz saß, mußte alleine zurückbleiben und litt unter der Qual.
Entweder lag es starr gebannt, rotwangig vor Erschöpfung, mit einem Blick aus weiten runden Augen an einen letzten Gegenstand gefesselt, der irgendein zusammenhangloses Ding war, das zu dem vielen, umgeworfenen Zeug im Inneren des Fahrzeugraumes zählte, oder es erwachte daraus wieder in seine unzufriedene Qual und Einsamkeit. Dann, weil es sich alleine wußte, begann es seinen Körper unvermittelt gegen die Sitzgurte auszustrecken und zu wenden, und das Weinen, das teils in der Anstrengung des Sich-Wendens, teils in der hilflosen Angst des Stilliegens zu ersticken drohte, ließ sich das lebendige Zeichen einer dort bei sich belassenen Verlorenheit aus dem abgeschlossenen Fahrzeug vernehmen.
Als wir beide nach kurzen, getrennten Erledigungen gleichzeitig an das Auto zurückkehrten, sah ich, wie die Mutter auf einmal schneller darauf zulief, um das Kind aus dem Sitz zu nehmen und draußen auf ihrem Arm zu trösten. Ich stand auf der anderen Seite bei der geöffneten Türe am Fahrerplatz und schaute über das Autodach den beiden zu, von denen ich nur die Köpfe und Oberteile sehen konnte. Es schien mir aber auch nicht in den Sinn zu kommen, mich jetzt da zu ihnen hinzustellen, zumal ich den Autoschlüsselbund, den ich mit den Fingern der rechten Hand umklammert hielt, als ein unbewußtes Hindernis fühlte. Als sie mich anlächelte, schön und geöffnet, und dazu ein Windzug in den Haaren, weil das Kind von seinen Qualen aufatmete und lächelte, blickte ich wohl mit Erleichterung zurück, sagte aber nur: „Komm, wir fahren weiter.“
Im Auto vorüberfahrend gaben wir gemeinsam zwei junge Personen ab, die mit alterslosen Gesichtern durch die Frontalscheiben „über die unter uns allen herrasende Ferne“ starrten.
Frank Kramhaar
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