piwik no script img

Gorbatschow wettert gegen Nationalisten

■ Sowjetischer Parteichef nimmt vor ZK der KPdSU zu Nationalitätenkonflikten Stellung / Perestroika-Gegner schüren nationale Leidenschaften / Demonstranten in Armenien wurden Führerscheine entzogen / Regionaler Parteichef nach Demonstrationen gefeuert

Moskau (ap/afp) - Michail Gorbatschow hat eine schärfere Bestrafung von Befürwortern des nationalen Separatismus gefordert. Vor dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU erhob Gorbatschow der 'Tass‘ zufolge am Freitag außerdem den Vorwurf, daß Widersacher seiner Perestroika-Politik nationale Leidenschaften schürten. Gorbatschow schlug jedoch auch vor, den Republiken und Regionen mehr Rechte unter anderem in der Wirtschaftsvewaltung einzuräumen. Die gegenwärtigen Nationalitätenkonflikte führte der Parteichef darauf zurück, daß die sowjetischen Behörden lange Jahre zu wenig Aufmerksamkeit für die „spezifischen Bedürfnisse der Völker und ethnischen Gruppen“ gezeigt hätten. Zudem hätten die Massen nur unzureichende Kontrolle über die Verwaltung ausgeübt.

Indessen wurden in der armenischen Hauptstadt Eriwan erstmals Personen bestraft, die für einen Anschluß der Region Berg-Karabach an Armenien demonstriert hatten. Die Gewerkschaftszeitung 'Trud‘ berichtete am Freitag, daß 155 Demonstranten, die sich an einem Autokorso in Eriwan beteiligt hatten, der Führerschein entzogen wurde. 310 Personen mußten Geldbußen zahlen, während weitere 44 mit einer Anklage rechnen müssen.

Dennoch demonstrierten am Freitag abend erneut etwa 300.000 Menschen in Eriwan. Sie haben damit gegen ein neues Dekret verstoßen, dem zufolge jede Demonstration in der Sowjetunion zehn Tage zuvor bei den Behörden angemeldet und genehmigt werden muß. Teilnehmer der Demonstration berichteten, daß das Karabach-Komitee eine „Volksabstimmung“ eingeleitet habe, um erneut die Wiederangliederung von Berg-Karabach an Armenien zu fordern. Das Präsidium des Obersten Sowjet hatte am 18. Juli dieses Verlangen abgelehnt und die Zugehörigkeit Karabachs zu Aserbeidjan bestätigt.

Das Karabach-Komitee forderte die Armenier auf, alle Formen „konstitutioneller“ Aktionen beizubehalten, darunter „Versammlungen und gegebenenfalls Streiks“. Für kommenden Freitag wurde zu einer erneuten Demonstration aufgerufen. Danach sollen Treffen alle zwei Wochen stattfinden. Eine entsprechende Anfrage soll bei den Behörden eingereicht werden.

Am Samstag wurde indessen der Vorsitzende des Gebietskomitees von Kuibyschew an der Wolga, Jewgeni Murajow, seines Amtes enthoben. Nach Angaben von Dissidenten hatten am 21. Juli rund 40.000 Demonstranten die Ablösung Murajows gefordert und mit einem Streik gedroht. Sie machten ihn für Versorgungsmängel bei Lebensmitteln, das Versagen des öffentlichen Verkehrssystems und Unregelmäßigkeiten bei der Zuteilung von Wohnraum verantwortlich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen