: „Repressive Toleranz
■ König Husseins Verzicht auf die Westbank
Palästinenser kennen seit langem jene eigentümliche Hilflosigkeit, als „Staatenlose“ über den in zahlreiche „Souveränitäten“ geteilten Globus zu streifen und überall ein Nicht-Bürger, ein Negativ-Mensch zu sein. Die neuzeitliche Ordnung der Nationalstaaten schließt einen Definitionszwang für jeden Menschen ein, der, wie Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusstudie zeigte, nicht mit einer formalisierten Identität versehene Flüchtlinge, Minderheiten und Staatenlose zum potentiellen Freiwild aller anderen macht. Nun entläßt der jordanische König nicht seine ehemaligen Untertanen, die Palästinenser der Westbank, sondern das Land, das 1967 militärisch verlorene Territorium, in die Staatenlosigkeit. Beute für die Groß –Israel-Planer in Tel Aviv? Oder der erste Schritt zu einem palästinensischen Ministaat, unter Ausschluß der drei Millionen außerhalb dieser Gebiete lebenden Palästinenser? Oder nur ein geschickter Schachzug im nahöstlichen Machtpoker?
Der angekündigte Rückzug des in der Westbank völlig isolierten Husseins aus der Zivilverwaltung ist zweifellos ein politischer Sieg der Intifada und damit auch der PLO. Der Herrscher über zwei Millionen Palästinenser – rund 60 Prozent seiner Untertanen in der „Ostbank“ – hatte in den letzten Monaten mit Erschrecken feststellen müssen, daß sein Regime in der Westbank nur wenig mehr geliebt wird als die israelischen Besatzer. Zudem hat der Funke der Intifada schon den Jordan übersprungen und könnte dort ein Feuer entfachen, das auch die Beduinenheere des Königs nicht mehr löschten, wie es 1970 mit dem Blut von 30.000 Palästinensern im Schwarzen September geschah. Hinter der großartigen Geste Husseins, aus Solidarität mit der palästinensischen Sache auf seinen Gebietsanspruch zu verzichten, steht nur allzudeutlich sein Interesse an der Eingrenzung eines revolutionären Elements. Der König begrenzt die Gefahr mit einer geschickten Art „repressiver Toleranz“, deren Taktik er in fast 40 Jahren Herrschaft in allen Varianten durchspielen konnte: indem er ausgrenzt. Zugleich kann er nicht vermeiden, daß seine Hauptverbündeten, die USA und die EG, auf ihren Wunschtraum verzichten müssen, in ihm einen willigen Ersatzpalästinenser anstelle der PLO gefunden zu haben. Diese „jordanische Option“ ist jetzt vom Tisch.
Das entspricht zwar den Bestrebungen der Bevölkerung in den besetzten Gebieten, für sich selbst sprechen zu können, und öffnet der PLO, da nunmehr das Land von allen legalen Bindungen gelöst ist, die Tore des internationalen Rechts für die Bildung einer Exilregierung. Doch damit wird die PLO in eine Verantwortung gestellt, die sie vielleicht jetzt, vor Beginn einer international garantierten Regelung der Palästina-Frage, noch gar nicht übernehmen kann. Die israelischen Besatzungstruppen können offenbar die Menschen der Westbank und des Gaza-Streifens nicht mehr kontrollieren, die Grenzen jedoch beherrschen sie weiterhin sehr gut.
Schon lange gelangt kein Dollar mehr über die Jordanbrücke in die von Aufstand und israelischen Repressalien geschüttelte Wirtschaft der Westbank. Um das öffentliche Leben, die Kosten und Gehälter der eigenen zukünftigen Staatsverwaltung finanzieren zu können, muß die PLO womöglich auf die auch von Israel akzeptierten Kanäle des jordanischen Regimes zurückgreifen. Auf diese Abhängigkeit spekuliert Hussein. Doch dieser Druck auf die alltägliche Situation der Menschen in der Westbank, die Geld und Pässe brauchen, wirkt auch auf die PLO und wird die Geschwindigkeit des Aufstands und damit seine Heftigkeit erhöhen. Die „palästinensische Option“ steht an.
Thomas Reuter
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