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„Auch ich hätte das tun können“

Adriano Sofri setzt sich auf einem Kongreß 1985 mit der Gewalt der Linken auseinander  ■ D O K U M E N T A T I O N

Auszug aus einem Beitrag, den Sofri auf einem Kongreß der Linkspartei Democrazia Proletaria am 12.Oktober 1985 in Mailand hielt. Dort ging es um den Tod des neofaschistischen Studenten Ramelli, der 1975 erschlagen worden war. Zehn Jahre später wurden Mitglieder der Democrazia Proletaria deswegen von der Justiz beschuldigt, ohne daß es jedoch zu einer Verurteilung kam.

Gegenüber den Personen, die kürzlich verhaftet wurden, fühle ich mich solidarisch, und zwar aus dem einfachen Grund - und das ist keine Metapher - daß ich das hätte tun können, was sie getan haben, direkt oder indirekt.

Ich verstehe ausgezeichnet, daß unter den wunderschönen, den aufregenden, rührenden, verrückten, schrägen Sachen, die wir gemacht haben, auch Untaten im strengsten Wortsinn waren. Warum müssen wir uns so darüber aufregen, wenn ein Verbrechen, daß offenkundig ein Verbrechen ist, Verbrechen genannt wird? Das heißt nicht, daß wir denjenigen, der es begangen hat, für einen Mörder halten, für einen Verbrecher oder für jemanden, den man in den Knast stecken muß.

Es ist völliger Quatsch zu sagen 'Die schlechten Meister haben die anderen losgeschickt ...‘ Was heißt hier 'schickten die anderen los‘? Wir waren verrückt danach, selbst in vorderster Front zu laufen, wie viele andere Schwachköpfe sind wir, glücklich und zufrieden, in vorderster Front gelaufen. Aus dem gleichen Grund, aus dem, hoffe ich, diejenigen, die heute das Alter haben, das wir damals hatten, jetzt in vorderster Front laufen, in anderen Formen ...“ Ich möchte Euch fragen, ob ihr das gleiche Gefühl habt wie ich. Mir passiert es seit langem, daß ich eine doppelte Reaktion habe, wenn ich an diese Sachen denke: Höre ich, wie jemand sagt, diese Jahre waren strahlende Jahre für die Demokratie, für den Fortschritt, für die Bestätigung entscheidender Wahrheiten, für den entscheidenden Wandel der Gesellschaft, dann fühle ich mich sehr unwohl und habe den Eindruck, da ist etwas falsch. Kommt aber jemand und sagt mir, das waren die Jahre der blinden Gewalt, des Fanatismus, des Stumpfsinns, der Instrumentalisierung, dann fühle ich mich gleichermaßen unwohl und weiß, es ist nicht wahr. Das ist der Punkt, auf dem ich bestehen will, auch gegenüber der Justiz: ich glaube, daß die Wahrheit der Fakten, auch angenommen, sie sei als solche gesichert, nicht die Wahrheit ist ... Wir kennen alle die Geschichte von Ödipus: eine Geschichte von Schuld und Scham, wie er sagte: seiner Scham muß man sich nicht schämen. Ödipus begeht drei wunderbare Taten: Er bringt einen arroganten Herrenmenschen um, der ihm den Weg verstellt und seinen Stand durchsetzen will. Er befreit eine Stadt von der Pest, indem er eine Sphinx umbringt, und schließlich tut er etwas voller Würde und Großzügigkeit: Er verliebt sich in eine Witwe und heiratet sie, die Königin dieser Stadt. Nach einer Weile reagiert Ödipus, der nun große Mühe hat, beleidigt, als ihm die anderen sagen, daß die Dinge so nicht stehen: Er ist gezwungen einzusehen, daß er einen Vatermord begangen hat, daß einer eine heilige Jungfrau vergewaltigt hat, wodurch die Pest über die Stadt kam, und daß er Inzest mit der Mutter getrieben hat: An diesem Punnkt bleibt für ihn nur noch diese Wahrheit.“ „Ist das also die Wahrheit? Ist es wahr, daß diese Jahre nur Vatermord, Inzest, Verbrechen, Infamie und Mord waren? Ist es wahr, daß sie nichts davon waren? Sie waren alles das ...“

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