KLINGENDES HUFGETRAPPEL

■ „Europa und der Stier“ im Kunstgewerbe-Museum

Da bäumt sich der Stier aus Silber, da springt der Stier aus weißem Porzellan, da stampft der bronzene Stier die Erde und wie sich Europa auf seinem Rücken auch dreht und wendet, bald an ihn schmiegt, bald sich gegen ihn aufbäumt - man hat sich schnell übergesehen an dem einen Motiv. Noch ein Stier, noch 'ne Jungfrau. Blumenkübel zwischen den Vitrinen im Kunstgewerbe-Museum sollen für den Ausstellungsbesucher jene Atmosphäre einer Blumenwiese herbeizaubern, in der die Künstler schon oft die „Verführung der Europa“ angesiedelt haben. Europa, die von dem als weißer Stier getarnten Gott arglistig getäuscht, entführt und vergewaltigt wird, oder Europa, deren Schönheit den Gott verführt und die seine Stiergestalt lüstern umwirbt: schon in den Überlieferungen des Europa-Mythos durch die antiken Dichter liegen diese beiden Pole der Interpretation. Die Ausstellung dokumentiert in den Zeugnissen aus Kunst und Kunstgewerbe den vielfältigen Funktionswandel des Mythos. Ausführlich, aber auch ermüdend in der Detailfreudigkeit und Wiederholung der Geschichte, bringt der Katalog 19 Beiträge zur Motivgeschichte der Europa. Die Europa mit dem Stier wird dabei unterschieden von einer anderen Europa-Figur, die als Allegorie des Erdteils seit der Renaissance an Bedeutung gewann und als Chiffre in politischen Programmen auftauchte. Die Namensgleichheit der Stierreiterin mit dem Erdteil hat dagegen in den künstlerischen Umsetzungen kaum eine Rolle gespielt; deshalb ist das Stichwort „Europa“ als Anlaß der Ausstellung im Jahr der Kulturstadt Europas nicht mehr als ein Gag.

Kleine Terrakotten aus Böotien (griechisches Festland), im 5. Jahrhundert v. Chr. mit Matrizen in einer Massenfabrikation hergestellt, die sie als alltägliche Kultgegenstände ansehen lassen, zeigen eine Frau seitlich an den Stier gelehnt. In dieser undramatischen Konstellation der Kleinplastiken, die mit ähnlichen Darstellungen auf attischen Vasen zu den ältesten Belegen des Themas zählen, schimmert möglicherweise noch ein älterer Mythos durch, der ein weniger gewaltsames Verhältnis zwischen der Frau und dem Stier beschrieb. Der Stier galt in vielen frühen Kulturen als „Urbild von Wildheit, Kraft und Fruchtbarkeit“ (Barbara Mundt, Katalog S. 17); er wurde gefürchtet, gejagt und als man mit seiner Hilfe die Äcker pflügte, schrieb man deren Fruchtbarkeit nicht nur der gelockerten Erde, „sondern auch dem Gang des Stieres über das Land“ (s.o) zu. Der Stier war deshalb einer Muttergottheit, ob sie nun als Demeter oder unter anderem Namen verehrt wurde, als Attribut zugeordnet. Die Mythe von der Entführung der Europa durch den göttlichen Stier kehrt das Verhältnis des Tieres zur Frau um: Sie ist keine Göttin mehr aber er ein Gott. Die Geschichte von der Eroberung Europas durch den Gott erweist sich damit als eines der Mosaik-Steine der Entmachtung der Muttergottheiten.

Doch dieser Aspekt paßte nicht in die Antiken-Rezeption der Renaissance, die nun im neuerwachten Interesse an den Mythen den Akzent auf die dramatische Entführung legte. Der Stier und die nun oft unbekleidete Europa begegnen sich im Dekor von Teller und Schüsseln aus Majolika in leuchtenden Landschaften. Vom leidenschaftlichen Stier mitfortgerissen, sich hilflos an seine Hörner beim Ritt durch die Wogen klammernd, zeigte Tizian eine erbarmungswürdige Europa. Seltenes Mitleid mit ihr erweckt auch eine ungewöhnliche Federzeichnung von Peter Vischer (um 1512): Eine heulende Europa hält sich hier an der Mähne eines riesigen Vieches fest, das geradewegs auf den Betrachter zu aus dem Wasser steigt. Doch wurden die Versionen von der unglücklichen Europa nicht traditionsbildend.

Im Kunsthandwerk begann im Barock eine Tradition der idyllischen Formulierung der Spiele Europas mit dem Stier, die sich bis ins Rokoko fortsetzte. Kleinplastiken, Schmuckanhänger, Prunkbecken und -kannen, Porzellan-Figuren. Aus der Allegorie der Fülle und Fruchtbarkeit, zu der man die Geschichte vor einer üppigen Naturzszenerie gebrauchte, wurde ein niedlicher Topos vom lammfromm knieenden Stier, den Europa und ihre Freundinnen mit Blumenketten schmücken. Der Akt der Unterwerfung war verwandelt in ein Spiel der Anpassung.

Das Motiv von Frau und Tier liegt auch an der Schwelle zur erotischen Kunst, und die Beliebtheit mythologischer Bildprogramme auf Tapisserien und Prunkgeschirren begründet sich neben ihre philosophischen und moralischen Vieldeutigkeit aus ihrer Sinnenfreudigkeit und amourösen Anregung - ein Aspekt, den das Kunstgewerbemuseum diskret beiseite läßt. Doch reizte die Europa-Geschichte die an Positionen interessierte Erfindungsgabe der Künstler weniger als andere Götterliebschaften - etwa Leda mit dem Schwan und so blieb der bildliche Schwerpunkt der Geschichte bei der Ent- und Verführung. Eine negativ besetzte Variante der Europa-Geschichte, in der die sexuelle Begierde von der Frau ausgeht und zu ihrem Verbrechen wird, wird über Pasiphae, die mit Minos, dem Sohn von Zeus und Europa verheiratet war, erzählt. Sie verliebte sich in einen Stier, schlachtete aus Eifersucht Kühe als ihre Rivalinnen ab und ließ sich von Daidalos eine künstliche Kuh bauen, in deren Innerem verborgen sie ihren Stier doch noch erwischte.

Um die Frivolität und die animalischen Begierden der Frau zu dämonisieren, nutzten deutsche Künstler des 20. Jahrhunderts das Europa-Motiv. Neben den psychologiesierenden Formulierungen von Heinrich Vogeler, Lovis Corinth und Max Klinger zeigt die Ausstellung eine Graphik aus der Zeitschrift 'Jugend‘, in der das Thema seinen Höhepunkt an Trivialität erreicht. In Richard Müllers „Die Stärkere“ hockt ein nacktes Girl einem riesigen Stier auf dem Nacken, der sicher den ersten Preis auf einer Landwirtschaftsausstellung gewonnen hat und zieht ihm ein rosa Band durch die Nase.

Katrin Bettina Müller

„Europa und der Stier“ Kunstgewerbemuseum, Tiergartenstr. 6, bis 30.Oktober, Di-So 9-17 Uhr. Eintritt frei. „Die Verführung der Europa“, hrsg. von den staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, erschienen im Propyläen Verlag, Berlin und Ullstein GmbH, Frankfurt, kostet 39DM und bietet für Freunde kräftiger Schenkel von Stieren und Frauen reichlich Anschauungsmaterial - ansonsten etwas eintönig.