Giacomo Leopardi, ein Grüner?

■ Einer der italienischen Revolutionäre von 1968, Mitbegründer der klassenkämpferischen Sponti-Organisation Lotta Continua, derzeit im Untersuchungsgefängnis, beschuldigt der Beteiligung bei der Ermordung Calabresis, betont in diesem Beitrag die Aktualität eines der bedeutendsten europäischen Dichter: Giacomo Leopardi (1798-1837).

Adriano Sofri

Von Cossiga bis Toni Negri stimmen alle in einem überein: Es gilt, zum 150. Todestag Giacomo Leopardis die Aktualität des Dichters aus Recanati neu zu entdecken. Ist das möglich? Gewiß - vorausgesetzt man geht von der zwanzig Jahre alten Interpretation des Autors durch Sebastiano Timpanaro aus.

Der kommunistische Philosoph Cesare Luporini gestand unlängst, daß Giacomo Leopardi bei ihm den Platz einnimmt, den früher Karl Marx besetzt hielt. Alessandro Natta, ehemals Chef der KPI, befragt, welchen Autor er bei einem Schiffbruch mitnehmen würde, antwortete: „Ich müßte Gramsci sagen, aber lieber würde ich Leopardi nennen.“ Staatspräsident Francesco Cossiga verfaßte das Vorwort zu dem vom Präsidialamt neu herausgegebenen Gedankenbuch Leopardis. Toni Negri publizierte unlängst bei SugarCo Lenta ginestra, eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Leopardi. Eine erste interessante Frage ist also die nach der - von seinem 150. Todestag unabhängigen - Aktualität des sich der Aktualität gerade entziehenden Dichters und Denkers.

Ein anderer Grund für das neue Interesse liegt in der besonderen Stellung, die unsere Kultur Leopardi zugewiesen hat. Nach wie vor ist der Denker Leopardi schlecht angesehen: In der sonst hervorragenden Enzyklopädie der Philosophie des Verlages Garzanti kommt Leopardi nicht vor. Und doch haben ganze Generationen von Schülern fast nur durch die Gedichte An Silvia oder durch Der Ginster... etwas über die Natur erfahren. Die stiefmütterliche Natur

In den neuen grünen Anthologien dagegen ist Leopardi obligatorisch. Auf Versammlungen der Grünen wird er völlig selbstverständlich zitiert. Ein neues Kapitel einer langen Geschichte ideologischer Vereinnahmungen (die G.B. Squarotti soeben in 'La stampa‘ nachgezeichnet hat), Vereinnahmungen, die in der Nachkriegszeit in den Studien von Walter Binni und Luporini gipfelten, die einen demokratischen und fortschrittlichen, kurzum einen linken Leopardi für sich beanspruchten. Bleibt das Faktum, daß der mit grünen Augen neu gelesene Leopardi ganz außerordentliche Anregungen bietet.

Insbesondere ermöglicht er es, die aktuelle Frage nach Rot und Grün zu erhellen. Sie stand, wenn auch in ganz anderer Form, am Vorabend von 1968 schon einmal im Mittelpunkt einer der bedeutendsten Auseinandersetzungen der Neuen Linken Italiens.

Initiator der Diskussion damals war Sebastiano Timpanaro, Wissenschaftler von hohem Rang und Verfasser eines ungewöhnlich breit gestreuten wissenschaftlichen und essayistischen Werkes, das von der klassischen Philologie über die Geschichte des 19. Jahrhunderts bis hin zur Psychoanalyse reicht.

Im Mittelpunkt seiner kulturpolitischen Untersuchungen stehen die Studien zu Leopardi, die mit dem 1955 erschienenen Text zur Filologia di Leopardi beginnen.

Timpanaros Bedeutung steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seinem Bekanntheitsgrad, und das aus zwei Gründen: Erstens verabscheut er das sogenannte Gesellschaftsleben. Er, der strenge Moralist, lebt zurückgezogen, abseits des Wissenschaftsbetriebes. Zweitens vertritt er mit eigensinniger, ja sogar sektiererischer Unnachgiebigkeit eine linke, antistalinistische und antibürokratische Haltung und kultiviert eine unversöhnliche Feindschaft gegen kulturelle Moden und gegen Eklektizismus (auch den guten). Fest steht, Timpanaro ist ein großer Mann: Es ist unmöglich, sich mit Leopardi zu befassen und Timpanaro dabei außer acht zu lassen.

In einem Essay von 1964 - Alcune osservazioni sul pensiero di Leopardi umreißt Timpanaro das „Problem Leopardi“. Er beginnt mit der Ablehnung Leopardis durch die gemäßigten Toskaner des 19. Jahrhunderts, kommt dann auf Benedetto Croces Kritik des pessimistischen Materialismus Leopardis zu sprechen - der Dichter wurde sicherheitshalber in einen Idylliker verwandelt - und geht endlich auch ein auf die Studien von Luporini und Binni. Diesen beiden Gelehrten ist zu verdanken, wenn der aufgeklärte, pessimistische Materialismus Leopardis deutlich vom romantischen und existenziellen Pessimismus eines großen Teils des 19. Jahrhunderts, das in Sren Kierkegard seinen Helden fand, unterschieden wird.

Timpanaro weist darauf hin, daß in den heftigen Diskussionen über das Verhältnis Mensch und Natur in den fünfziger und sechziger Jahren versäumt wurde, diese Problematik in Leopardis Werk wieder aufzunehmen und mit dem Marxismus zu konfrontieren. Dafür lieferte Timpanaro einige Voraussetzungen, indem er auf die Fortdauer eines unbezwinglichen Pessimismus auch beim „progressiven“ Leopardi hingewiesen hat.

Der Übergang Leopardis von einem historischen zu einem kosmischen Pessimismus nach 1823/24 vollzog sich am Begriff der Natur, die er zuerst als barmherzige, Illusionen spendende Mutter und dann als gleichgültige, Krankheiten, Alter und Tod bringende Stiefmutter begriff. Auch der Urzustand, den Leopardi - der philosophischen Tradition des 19. Jahrhunderts entsprechend - als eine später durch die Zivilisation und den Mißbrauch der Vernunft verlorene Glückseligkeit ansah, kannte keine wahre Glückseligkeit, sondern nur ein schwächeres Bewußtsein des Unglücks, das den Menschen aller Zeiten und aller Gesellschaften eigen ist.

Aus der Lektüre der antiken griechischen Philosophen (nicht nur aus der Bibel) hatte Leopardi die Erkenntnis gewonnen, daß das Unglück nicht die Folge der zivilisatorischen Ablösung von der Natur ist, sondern ein zur Natur selbst gehörender Zustand. Durch die eigene Erfahrung körperlicher Gebrechen sensibilisiert und einem Rückgriff auf Gott und sein Mysterium entschieden abhold, kämpfte Leopardi gegen jede anthropozentrische und teleologische Weltsicht: Der Mensch erscheint bei ihm nur als der „allergeringste Teil“, seine Welt als „obskures Sandkorn, das den Namen Erde trägt„; der Zyklus der Hervorbringung und Zerstörung der Natur kennt weder die Interessen und Zwecke des einzelnen Menschen noch die der Menschheit. Das politische Desengagement

Leopardis rigoroser Materialismus beginnt nach Timpanaro mit dessen Verzicht auf den Mythos einer engagierten Dichtkunst und mit seinem fortschreitenden politischen Desengagement, das auch an die Wende gebunden ist, die auf die Niederlage der Bewegungen gegen die restaurativen Regimes 1820/21 folgt: „Eine höchst lächerliche, eine eisige Zeit.“ Hier liegt ein weiterer Grund für die Aktualität Leopardis, des Dichters des Zerfalls revolutionärer Illusionen. Doch das Verhältnis von pessimistischem Materialismus und unpolitischer Haltung hatte eine tiefer reichende Wurzel:

„Die Menschen sind in meinen Augen, was sie von Natur aus sind, also der allergeringste Teil des Universums, und meine Beziehungen zu ihnen und zu ihren wechselvollen Beziehungen berühren mich überhaupt nicht, und da sie mich nicht berühren, beachte ich sie nicht, wenn doch, dann nur oberflächlich. Wohl aber bin ich daran gewöhnt, mich selbst fortwährend zu beobachten, also den Menschen an sich, und so auch seine Beziehung zum Rest der Natur.“ (Lettera al Vieusseux, März 1826).

Timpanaro betonte - damit Luporinis Interpretation zurechtrückend - die relative Unabhängigkeit eines wissenschaftlichen Fortschrittsdenkens, dem Kampf für die Befreiung aus religiösen und metaphysischen Vorurteilen, vom politisch-sozialen Fortschrittsdenken, dem Kampf für die Befreiung von politischer Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit. Leopardianer und Manzonianer

War diese Unterscheidung sinnvoll, um die allzu enthusiastische Vereinnahmung Leopardis für das politische Fortschrittlertum einzudämmen, führte sie jedoch dazu, philosophischen Materialismus und die Ablehnung jeglicher religiösen Überzeugung mit fortschrittlicher Gesinnung gleichzusetzen. So erklärt sich, weshalb die italienische Linke einige Jahre lang glaubte, sich in „Leopardianer“ und „Manzonianer“ spalten zu müssen, wobei Manzoni der negative Held religiösen Trostes und konservativ moderater Haltung wurde, wenn nicht gar zum Helden des historischen Kompromisses.

Zudem tat diese parteiische Alternative der radikalen Verleumdung der Geschichte in den Verlobten Unrecht, ebenso wie der Affinität von Manzonis Massenphobie zu Leopardis Sarkasmus den Massen gegenüber („Die Masse, welch anmutiges, modernes Wort“). Aber natürlich gibt es bei Manzoni eine überzeugte Bejahung der eigenen Zeit und der bürgerlichen Entwicklung, zu der Leopardis Aversion gegen den katholisch-liberalen Optimismus und dessen Mythos vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt im Gegensatz steht. Religions- und fortschrittsfeindlich zugleich: Deshalb erschien Leopardi einer liberalen, aufgeklärten Haltung als der Verneiner des Jahrhunderts.

Hier droht Timpanaros These zu unscharf zu werden: Der fortschrittliche Leopardi stimmte schließlich mit Leopardi, dem Verhöhner des Fortschritts, überein. „Eine große Liebe, / vielfält'ger Handel, Eisenbahnen, Dampf, / die Cholera, der Buchdruck knüpfen bald / entferntestes Geländ und Volk zusammen.“ Aber war nicht die von Leopardi verhöhnte Lokomotive der am enthusiastischsten vertretene Mythos der Linken? Waren für Marx nicht die Revolutionen die Lokomotiven des Fortschritts der Weltgeschichte? „Vereinigt allesamt“

Die Antwort des späten Leopardi, daran erinnert Timpanaro, hob auf die hellsichtig verzweifelte Offenbarung der Wahrheit über die Situation des Menschen ab: „Die 'Paralipomeni della Batrocomiomachia‘ negieren jeden qualitativen, unüberwindlichen, Unterschied zwischen Mensch und Tier. Sie halten gegen das christliche Getue des 19. Jahrhunderts am empiristischen, antimetaphysischen 18. Jahrhundert fest. Hier ist die Spitze von Leopardis Fortschrittsdenken.“ Dies mündet in Der Ginster oder die Blume der Wüste in den Appell an die Solidarität aller Menschen im Krieg gegen die Natur. „Sie nennt er seine Feindin; gegen sie / glaubt er mit Recht die Menschen / vereinigt allesamt...“

Leopardi hatte die Quellen eines verwandten Denkens sowohl in der antiken Klassik wie bei der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gefunden. 1826 notiert er im Gedankenbuch: „Die Beobachtung von Hierokles in seinem Buch 'Über die brüderliche Liebe‘ ist sehr schön (...), da das menschliche Leben wie ein ständiger Krieg ist, in dem wir von den äußeren Dingen (der Natur und dem Glück) bekämpft werden, sind uns Geschwister, Eltern und Verwandte als Verbündete und als Hilfe zur Seite gegeben.“

Das Denken des 18. Jahrhunderts stellte sich die Gesellschaft als Summe aller Individuen und Bürger vor und fand darin die Begründung seines kosmopolitischen Pazifismus. Timpanaro befaßt sich mit diesem zweiten Punkt weniger: Wenn aber das aufgeklärte, kosmopolitische Denken die Teilung der Welt in herrschende Geschlechter ablehnte, wetteifern im politischen Kampf andere Aufteilungen der Welt: die in soziale Klassen oder die in Nationen. Der neue Primat der „sozialen Frage“ komplizierte die Frage des politischen Fortschritts enorm.

Vom Standpunkt sozialer Unterschiede zwischen Arm und Reich, Herren und Ausgebeuteten aus, klingt der Appell an die Solidarität aller Menschen und aller anderen Geschöpfe wie das genaue Gegenteil der politischen Fortschrittsideologie. Liegt darin nicht das Mißtrauen oder die Ablehnung begründet, mit der die Linke noch vor zwanzig Jahren die ersten ökologischen Äußerungen als Ideologie der Herrschenden mißverstand?

Timpanaro spricht von den „großen demokratischen Möglichkeiten dieses Appells“, um danach einzugestehen, daß sich darin kein Hinweis auf einen „Kampf gegen die politische und soziale Unterdrückung als Voraussetzung für das Erreichen der 'Verbundenheit‘ der gesamten Menschheit“ findet. Im Gegenteil, die Gegensätze zwischen Menschengruppen sind für Leopardi marginal und in Anbetracht der Notwendigkeit, sich gegen das zusammenzuschließen, was im politischen Jargon der „Hauptfeind“ genannt wird, gegen die Natur also, zu vernachlässigen.

Wer heute von den sich auf religiöse oder philosophische Motive gründenden Kämpfen zwischen Menschen nichts mehr wissen will, stützt sich auf die dringlicher gewordene historische Notsituation der Bedrohung durch atomare oder ökologische Zerstörung. Die Ursachen der Kämpfe zwischen Menschen sind nicht hinfällig geworden; im Gegenteil, oft haben sie sich noch verschärft: Doch in Anbetracht der Bedrohung unseres Überlebens auf der Erde, in Anbetracht der Notwendigkeit einer neuen Politik, werden sie nach und nach zweitrangig.

Die Vorstellung von zwei aufeinander folgenden Perioden heute der Klassenkampf, morgen die Verbundenheit aller gegen das Schicksal Natur -, die noch Timpanaro andeutete, erscheint nicht mehr angemesssen: Es ist nicht nur so, daß die Kämpfe zwischen Menschen und der so weit wie möglich solidarische Kampf ums Überleben gleichzeitig geführt werden müssen, sondern Letzteres nimmt Ersteres immer mehr für sich in die Pflicht. Wer nach dem tiefsten Grund der Krise der Linken und ihrer eventuellen Wandlung sucht, wird ihn hier finden.

Bei Leopardi stößt man auf unmißverständliche Sympathien für arbeitende Menschen, doch sie zielen eher auf deren aktuelle Gesundheit ab als auf das Versprechen künftiger Befreiung (in diesem Sinn finden sich bei Pasolini Spuren von Leopardi). Timpanaro antwortete darauf mit der Unterscheidung von wissenschaftlicher und politischer Fortschrittsideologie, betonte jedoch, daß der Appell Leopardis sich der Verzweiflung bewußt war.

Er bemühte sich, Leopardi der gefährlichen Nachbarschaft Schopenhauers, Kierkegaards und schließlich Nietzsches zu entreißen. In Anbetracht der forcierten Interpretationen von Leopardi als „fortschrittlichem Denker“ brachte Timpanaro beharrlich seine Einwände vor: Er verwies auf den Leopardi, der schrieb: “...zu bessern / vermag, so scheint mir, dieses freudenvolle / neunzehnte Säkulum nicht mehr als / das neunte oder zehnte, und nicht mehr / vermag es je ein künftiges Jahrhundert„; und daß jeder Mensch „zu welcher Zeit auch“ nur unglücklich sein kann, „durch unheilbare innre Natur und allgemeine Ordnung“. Dieser Leopardi kann keiner Konzeption, die das menschliche Unglück auf eine abschaffbare historische Situation reduziert, angepaßt werden. „Die Natur grünt stets“

Der Leopardi Timpanaros, der in den Paralipomeni fast schon Darwinsche Fragen vorwegzunehmen versteht, weiß wohl, daß die Natur eine Geschichte hat. Doch diese Geschichte hat einen so unvergleichlich viel langsameren und mechanischeren Gang, daß sie nicht auf das Dazwischentreten der menschlichen Geschichte zurechtgebogen werden kann. „So ohne vom Menschen und den Zeiten / die dieser Antike nennt / zu wissen, grünt die Natur stets, ja sie schreitet voran / - so langsam, / daß sie zu stehen scheint.“

Die Konklusion von Timpanaros Essay von 1964 ist die wenig schlüssige Verkündung eines leopardianischen Marxismus. „Für einen Marxisten asbsorbiert und überwindet letztlich der historische den natürlichen Menschen voll und ganz. Für Leopardi bewahrt die Natur auch in Anbetracht des zivilisierten Menschen all ihre außerordentliche, ihre verzehrende, zerstörerische Kraft.“ Diese Schlußfolgerung wirkt heute wie eine frühzeitige Erkenntnis der Illusionen der marxistischen und jeder Fortschrittsideologie überhaupt.

Wenn sich die Lesart so gewandelt hat, dann verdankt sich das nur zum Teil der Krise der dogmatischen politischen Marxismen, sondern sehr viel mehr der Erfahrung einer drohenden nuklearen, ökologischen und demographischen Katastrophe. Das ist neu. Daß heute nur noch knapp fünfzehn Jahre anberaumt werden, signalisiert die Widersetzlichkeit gegen alte Denkgewohnheiten, aber auch die Schnelligkeit einer Entwicklung, deretwegen sich die menschliche Bevölkerung, die heute noch fünf Milliarden beträgt, im Verlauf von fünfzehn Jahren verdoppeln wird.

Natürliche und geschichtliche Zeit

1966, zwei Jahre später, publizierte Timpanaro in den Quaderni Piacentini einen Artikel, die Considerazioni sul materialismo, der wegen der von ihm schon im Aufwind von 1968 entfachten Diskussionen, die für die intellektuellen Wurzeln der italienischen Neuen Linken wichtigste und vermutlich auch am heftigsten verdrängte Episode darstellt. Der Rückgriff darauf kann dazu dienen, das Erinnerungsdefizit der grünen Kulturansätze und ihren szientistischen oder exotisch-spirituellen Importen abzuhelfen. Es war Timpanaros Absicht, den Materialismus sowohl gegen hegelianische wie neopositivistische oder subjektivistische Versionen des Marxismus für sich zu reklamieren. Eine Intention, so unaktuell wie ihr eigensinnig an Holbach, Engels und vor allem an Leopardi festhaltender Autor.

Timpanaros Essay ging den Revolutionären von damals gegen den Strich. Sein Beharren auf dem Gegebenen, dem jeder Bewußtseinsform und der Existenz selbst innenwohnenden passiven Aspekt konnte einer Generation, die, in einer Zeit sozialer Bewegungslosigkeit und einer, wie man glaubte, omnipotenten Rationalisierungskraft des „kapitalistischen Plans“, politisches Engagement und politisches Handeln neu entdeckt hatte, nicht gefallen. Subjektivismus und Voluntarismus waren die wesentlichen Triebfedern dieser neuen Generation, die in die Fabrik zu gehen begann und sich die ersten dürftigen Solidaritätsaktionen für Vietnam ausdachte. Das 1968 der Studenten und das 1969 der Arbeiter schienen diese voluntaristischen Anstrengungen zu krönen; dies zur Erklärung, warum Timpanaro im Grunde eine Ausnahme blieb und nicht wahrgenommen wurde.

Doch ist richtig, sich in Erinnerung zu rufen, daß die Ungeduld angesichts der eigensinnigen Beanspruchung der passiven Seite viele aus dieser Generation nicht daran hinderte, sich von der Klarheit fasziniert zu zeigen, mit der Timpanaro, wenn auch ohne persönlichen Akzent, das Streben nach Glück und die Verdammung zum Unglück, die irreparable natürliche Ungleichheit, das Leiden an Krankheit und Häßlichkeit darstellte.

Timpanaro zufolge hatte der späte Marx (der nicht zufällig vorhatte, das Kapital Darwin zu widmen und von der Geschichte der ökonomischen Gesellschaftsformationen als „einem Prozeß der Naturgeschichte“ sprach) keine Zeit mehr, um seine frühe Konzeption des Verhältnisses von Mensch und Natur zu korrigieren. Nachdem Darwin die Geschichtlichkeit der Natur dargelegt hatte, konnte Marx keine geschichtslose Natur mehr gegen eine von Geschichte bestimmte menschliche Gesellschaft setzen.

Es galt, die Geschichtlichkeit beider zu unterscheiden und nach den Verbindungen zwischen beiden zu suchen. Engels hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt: „Die Naturwissenschaften weisen auf ein mögliches Ende der Existenz der Erde selbst, auf ein sicheres Ende ihrer Bewohnbarkeit hin.“ Aber er fügte hinzu: „Doch noch sind wir von diesem Kulminationspunkt, von dem ab die menschliche Geschichte ihren Niedergang nimmt, weit entfernt.“

Die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Natur führte im 19. Jahrhundert schließlich dazu, daß, eben wegen ihres extrem langsamen Gangs, ihr Einfluß auf das Szenario der menschlichen Geschichte vernachlässigt wurde. Vom Standpunkt der letzteren her gesehen war es, als ob die Natur starr und unverrückbar wäre. Das Weltende warf einen beunruhigenden Schatten auf den Horizont der Lebenden, doch es verharrte in einem Sicherheitsabstand: „Wir sind weit davon entfernt...“

Aber heute? Im Szenario des 19. Jahrhunderts bis zur Indifferenz voneinander geschieden, haben sich Natur- und Kulturgeschichte einander so weit angenähert, daß ein Kurzschluß zu befürchten ist. Die uns überlieferte Politik entsprach der beruhigenden Trennung der Zeitperioden und Szenarien und konnte sich deshalb ihre engelsgleiche Grausamkeit erlauben. Ist das vielleicht der Grund, weshalb der unpolitische Leopardi politisch wird und die herkömmlichen politischen Kategorien sich verhaspeln? Natur gibt es nicht?

In Timpanaros kühnem, schönem Essay von vor zwanzig Jahren wird das Problem nicht einmal am Rande gestreift. Timpanaro wollte unbedingt sein memento mori an eine leichtfertige Menschheit und den prometheischen Optimismus ihrer Revolutionäre zum Ausdruck bringen, den politischen Aktivismus vor Vereinfachung und Subjektivismus warnen. Er wollte nicht die Kriterien der Analyse und des politischen Handelns in Frage stellen. Da er ausgerechnet für den Lenin von Materialismus und Empiriokritizismus und dessen Kreuzzug gegen das Wiedererstehen des Idealismus Sympathien hegte, schloß Timpanaro nachsichtig: „Es ist evident, daß eine Vertiefung des Verhältnisses von Mensch und Natur den Interessen Lenins und der dringlichen Notwendigkeit revolutionärer Aufgaben, zu denen er berufen war, fern lag.“ Kann die revolutionäre Notwendigkeit also den Fortschritt für sich reklamieren und das Verhältnis von Mensch und Natur außer acht lassen?

Alle waren wir davon überzeugt. Lenins Pamphlet über Staat und Revolution war Qual und Wonne, was seinen ultrazentralistischen Teil angeht - die Notwendigkeit der Zerstörung des bürgerlichen Staates und der Errrichtung der Diktatur des Proletariats - und seinem ultraanarchistischen Teil - der proletarische Staat und damit jede Staatsform ist dazu bestimmt abzusterben. Qual und Wonne, solange nicht klar geworden war, daß die beiden Zeitperioden, die der Notwendigkeit (den bürgerlichen Staat zu zerschlagen) wie der Utopie (das Absterben eines jeden Staates und der Politik selbst) voneinander so weit entfernt waren wie die Physik von der Metaphysik oder die politische Geschichte von der Naturgeschichte. Spricht der Begriff „Absterben“ nicht für sich? Er verweist doch auf die Sprache der Naturgeschichte und ihre unendlichen Zeitspannen?

Das Auseinanderreißen der beiden Zeitperioden führte dazu, daß die Gewalt, die die Natur über das Individuum ausübt, vernachlässigt oder gar ignoriert wurde. Stolz auf die Konstruktion einer künstlichen, einer zweiten Natur, vergißt der Mensch gerne die Konditionierung, die die erste Natur seinem Körper, seiner individuellen Beschaffenheit antut. Noch heute hört man auch bei Erzgrünen den Ausspruch: Natur gibt es nicht.

Damit wird der Vorwurf der Nostalgie nach einer verlorenen Vergangenheit abgewehrt und die vorwitzige Überzeugung vertreten, alles was existiere sei durch die gestaltenden und zerstörenden Hände des Menschen gegangen (und der Mensch selbst, ist er nicht auch Natur?); und schließlich wird diesem undurchdachten Weltbild von Leuten das Wort geredet, die daran gewöhnt sind, in und von den Metropolen, ihren Städten und ihrem Getriebe zu leben.

Der Satz von der Natur, die es nicht gibt, ist nur dann sinnvoll, wenn damit gemeint ist, daß die Menschen der Erde ihre Spuren so tief eingeprägt haben, daß man nicht mehr davon ausgehen kann, man könne ihr das Gleichgewicht durch einen bloßen Rückzug aus dem derzeitigen Zustand wiedergeben. Andernfalls handelt es sich nur um Gerede, das vorgibt, Gesellschaft und Technik hätten die Menschen dem natürlichen Leben entzogen, die Herrschaft über Geburt, Sexualität und Tod selbst in die Hand genommen und den Menschen Lust und Möglichkeit geraubt, einen Monduntergang überhaupt noch wahrzunehmen.

Die Natur gibt es. Selbstverständlich ist das für die Linke ein heikles Thema. „Die Natur steht rechts“ (Ramuz). Hat sich hinter dem Verweis auf die „Natur des Menschen“ und den „Menschen im allgemeinen“ nicht stets die Abneigung der Privilegierten gegen Veränderung, Bewegung und größere Gerechtigkeit verborgen? Merkwürdig, wie Timpanaro, der wackere Feind des Strukturalismus, beharrlich darauf besteht, daß der „natürliche Mensch“ zwar nicht ewig, aber von Dauer und sehr viel stabiler als historische und soziale Verhältnisse ist, stabiler selbst als Revolutionen, die zu sehr in ihre evolutionären, ideologischen Programme, in ihren neuen und glücklichen Menschen verliebt sind. Leopardi und der späte Marx

Seit einigen Jahren ruhen in den Schubladen des Verlages Einaudi die Übersetzungen von ein paar gewichtigen Bänden, den ethnologischen Notizen des alten Marx - des alten Mannes Karl Marx, meine ich. Der marxistische Sozialismus war begeisterter Anhänger der Darwinschen Evolutionslehre. Die Verlegung der Menschheit vom theologischen Schöpfungsszenario auf die materielle Veränderung der Welt, auf eine Ewigkeit, die jedem Bereich der Geschichte ausgetrieben worden war, und auf das heldenhafte Schicksal des Todes waren wie dafür geschaffen, ihm zu gefallen. Im übrigen sah Marx keinen Widerspruch zwischen dem Gesetz der Evolution und dem der Revolution.

Die Veränderung - ihre Genesis, die bahnbrechende Manifestation ihrer selbst und ihre Verbreitung - steht im Mittelpunkt des Interesses von Marx. Zwischen Kontinuität und Bruch hat er sich für letzteren begeistert, was sich allerdings zum Ende hin veränderte. Der alte Marx wird, außer durch seine wissenschaftliche Neugier und die vorhergehende Lektüre von Engels, durch sein allmählich wachsendes Interesse für den Gedanken historischer Entwicklungsstadien dazu gebracht, von Genesis und Ende des Kapitals Abstand zu nehmen, um über primitive Gesellschaften, über die Antike, die „asiatische Produktionsweise“ und die russische Dorfökonomie zu forschen.

Anthropologen und Reisende nehmen in seinen Schriften einen immer größeren Raum ein. Die ethnologischen Exzerpte bezeugen in reichem Maße, wie sich Marxens Interesse verlagert von der Veränderung auf das Fortdauernde und auf Kontinuität, auf das, was sich nur sehr langsam wandelt. Natürlich darf man nicht der Versuchung erliegen, diese veränderte Haltung im Licht biographischer Fakten zu betrachten; das wäre ein rohes Verfahren, einer Reduktion Leopardis auf seine Gebrechen vergleichbar. Dennoch stünde einem Marxismus, der stets zwischen dem „frühen“ und dem „späten“ Marx unterschieden hat, der Appendix des „alten“ Marx nicht schlecht.

Zu der Unterscheidung von natürlicher und historischer Zeit hat auch die Überzeugung gehört - mit der Timpanaro 1967 die Diskussion beschloß -, daß das „soziale Übel“, die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, auf lange Sicht gesehen, leichter zu kurieren sei als das „physische Übel“, die Unterdrückung der Natur durch den Menschen. Doch die Tätigkeit des Menschen, wie die Überausbeutung der Ressourcen, die Umweltzerstörung und das schrankenlose Ausufern der Wissenschaft ohne Rücksicht auf mögliche Folgen, dieses „soziale Übel“ kann sich in ein „physisches Übel“ verwandeln.

Marx prägte den deterministischen, zugleich aber auch beruhigenden Satz, demzufolge der Mensch von der Naturgeschichte gemacht wird, aber seine Geschichte selbst macht, von der Evolution hervorgebracht wird und die Revolution selbst macht. Deterministisch ist der Satz, weil dadurch für jeden Anthropozentrismus unüberwindliche Schranken geschaffen wurden; beruhigend, weil der Mensch sich innerhalb dieser Grenzen ohne weiteres seinen Zielen, seinen Kämpfen und Leidenschaften widmen konnte. Doch was wird aus dem Menschen, der in zunehmendem Maße seine Naturgeschichte macht, und zwar zunichte macht? Werden seine Ziele, Kämpfe und Leidenschaften denen der Reisenden auf der 'Titanic‘ nicht immer ähnlicher? Lautete so nicht der Appell, den einst Leopardi aus der Überzeugung ableitete, die Natur sei der unversöhnliche Feind aller?

Übersetzung: Michaela Wunderle

Panorama, 12. Juli 1987

Giacomo Lepardi, geboren am 29.6. 1798 in Recanati, gestorben am 14.6. 1837, war einer der bedeutendsten Lyriker Italiens. Sein ganzes Leben über schwer krank, mit starken philologischen Interessen, versunken in die Werke der Antike, entwickelte er eine pessimistische Grundstimmung, die auch eine Reaktion auf die politischen Entwicklungen der Restaurationsepoche war.

In Winklers Dünndruck Bibliothek der Weltliteratur ist eine zweibändige Auswahl aus den Werken Leopardis erschienen. Eine sehr schöne, aber leider nicht billige Ausgabe. Der erste Band enthält „Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke“, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Hanno Helbling und Alice Vollenweider, dazu ein Nachwort von Horst Rüdiger und eine Zeittafel von Robert Steiger. Die Gesänge werden zweisprachig abgedruckt. 558 Seiten, 68,80 DM. Im zweiten Band finden sich Auszüge aus dem „Gedankenbuch“. Auswahl und Übersetzung besorgte Hnno Helbling. Dazu enthält der Band ein Nachwort von Alice Vollenweider und eine gegenüber dem ersten Band leicht umformulierte Zeittafel von Robert Steiger. 604 Seiten, 98,-DM