: Ein Kaleidoskop des Lebens und der Kunst
■ Julio Cortazars Roman „Die Gewinner“
Wir sind nicht die große Rosette der gotischen Kathedrale, sondern die einen flüchtigen Augenblick lang erstarrte Rose des Kaleidoskops. Doch bevor sie abtritt und ihre Blätter bei der nächsten launenhaften Drehung des Kaleidoskops auseinanderfallen, was für Spiele werden zwischen uns gespielt werden, wie werden sich die kalten und die warmen Farben, die unter dem Zeichen des Mondes und die unter dem des Merkur Geborenen, die Charaktere und die Temperamente zusammenfinden?“
Das Leben als unlösbares Puzzlespiel, als Labyrinth ohne Ausgang. Die Welt als diabolische Laune des Universums, das die Menschen dazu verdammt, sich mit rein zufällig entstehenden gesellschaftlichen Ordnungen und willkürlich gesetzten Schranken abzufinden und im freien Fall zwischen Vergangenheit und Zukunft immer neuen Konstellationen des Kaleidoskops entgegenzustürzen. Die menschliche Existenz also als ungeordnet, als sinn- und ziellos, als ein Kaleidoskop, das nur der Willkür gehorcht. Was aber geschieht, wenn der Mensch versucht, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn er die nächste Drehung des Kaleidoskops vorauszuahnen und gegebenenfalls zu verhindern versucht? Das ist das Thema des 1960 erschienenen Erstlings von Julio Cortazar, der nun in einer überarbeiteten Übersetzung (die erste erschien 1966) im Suhrkamp Verlag vorliegt und von diesem zu Recht als eine „Einführung in Cortazar“ angeboten wird - das heißt vor allem für jene, die sich noch nicht an sein Hauptwerk „Rayuela“ (ebenfalls bei Suhrkamp) heranwagen wollten.
Die Geschichte, die Cortazar erzählt, folgt einem so bekannten wie reizvollen Muster. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe findet sich im Hafen von Buenos Aires ein, um einen Ozeandampfer zu besteigen, der sie zu einer Vergnügungsreise aufnehmen wird. Sie sind „die Gewinner“, bereit, ihren Hauptpreis in der staatlichen Lotterie, eben diese Reise, einzulösen.
Ziel und Dauer der Reise jedoch sind unbekannt, und die Einschiffung im Dunkel der Nacht geht unter höchst dubiosen Umständen vonstatten. Zwar scheint der unerwartete Komfort an Bord diese Unzulänglichkeiten zunächst zu kompensieren, die rätselhafte Verschwiegenheit des in einer seltsamen Sprache redenden Schiffspersonals jedoch sowie die Feststellung, daß der Zugang zum Achterdeck den Reisenden verwehrt wird, sorgt für große Gereiztheit unter den Reisenden. Als sie schon bald mit offener Rebellion drohen, erklärt einer der sich aus unerfindlichen Gründen ständig vor den Gästen versteckenden Offiziere, der Kapitän und ein Matrose seien an einer mysteriösen Infektion erkrankt. Sie würden mit dem Rest der Mannschaft auf dem Achterdeck in Quarantäne gehalten. Die Reaktion der Gäste ist klar: Sogleich „herrscht eine Pestatmosphäre wie in einem existentialistischen Roman“, wie einer der Reisenden bemerkt.
Doch dann wird statt der Gefahr der Ansteckung die Unfähigkeit einiger, die Entwicklung - oder sagen wir mit Cortazar: die nächste Drehung des Kaleidoskops - abzuwarten, zur Bedrohung. Diejenigen, die sich für die „Helden“ halten, trennen sich von denen, die sie fortan als „Feiglinge“ beschimpfen werden. Diese „Helden“ fühlen sich zum Narren gehalten, und mit kindsköpfiger Halsstarrigkeit trommeln sie zur Meuterei. Sie wollen nicht an die Krankheit glauben, und als sie sich schließlich gewaltsam Zutritt zum Achterdeck verschaffen, entdecken sie, daß... Doch halt! Cortazar wäre nicht der geniale Erzähler, „Die Gewinner“ nicht der jedem Kriminalroman an Spannung ebenbürtige Roman, könnte man den Lesern das Ende ohne Skrupel verraten.
Doch nicht nur Spannung bietet dieser Roman, sondern - in den eingeschobenen Monologen Persios, der gewiß als Cortazars „alter ego“ zu verstehen ist - auch eine bisweilen in sprachliche Rauschzustände aufsteigende Meditation über die Relativität des Universums und über die Multiperspektivität menschlichen Denkens und Handelns. Picassos „Blaue Gitarre“, Symbol für die kubistische Ästhetik der Simultaneität und den Verlust der Zentralperspektive in der modernen Kunst, wird zum zentralen Bild dieser Monologe und damit zur Chiffre nicht nur des Kunstbegriffs des Autors, sondern auch seiner Analyse von Gesellschaft, Politik und schließlich auch der sexuellen Moral. Die politische Zerrissenheit Argentiniens, das Fortbestehen von „Standesunterschieden“ an Bord der Arche Noah (als die Persio das Schiff wiederholt beschreibt), das Nebeneinander von Sex und Gewalt, von Liebe und Ehebruch, von Verführung und Verweigerung - all das beweint Persio, wenn er nachts die Sterne betrachtet und „sich an diesen Zweifeln, die er Kunst nennt oder Poesie, ergötzt“.
Und so erklärt es sich, daß Cortazar in seiner „Nachbemerkung“ darauf hinweist, daß dieses wie jedes Buch mit dem Zweifel nur spielt, daß die Kunst wie das Leben keine gültigen Lösungen anbieten kann: „Wenn gegen Ende der einen oder anderen Person so etwas wie Selbsterkenntnis gelingt, während andere kraftlos wieder in das zurückfallen, was ihnen die herrschende Ordnung auferlegt, so sind dies die alltäglichen dialektischen Spiele, die jeder in seiner Umgebung oder im Badezimmerspiegel beobachten kann, ohne darum gleich auf die Idee zu kommen, ihnen Transzendenz beizumessen.“
Das Kaleidoskop wird sich unaufhörlich weiterdrehen. Im Leben wie in der Kunst.
Johannes Bohmann
Julio Cartazar: Die Gewinner. Aus dem Spanischen von Christa Wegen (Frankfurt: Suhrkamp 1988), 412 Seiten, 44 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen