Polemiker-Mahlzeit: Exaktes und Unscharfes

■ Ein Brief an Niklas Luhmann, der eine Antwort ist auf des Bielefelders Artikel über die 68er Studenten in der taz vom 4.8.88

Urs Jaeggi

Lieber Niklas Luhmann,

Sie haben die Schnur, das Senkblei und den leeren Raumn, in den Sie Leser hineinführen. Ich darf paraphrasieren: Man kann die Gesellschaft beobachten, kritisieren, theoretisieren, ohne selbst dazuzugehören. „Zufällige Vorfälle, der Schuß auf Benno Ohnesorg zum Beispiel, schossen die Studenten aus der Gesellschaft hinaus - und von da ab konnte man über den Rasen laufen.“

Wie ein Feldvermesser urteilen Sie über die Studentenbewegung und favorisieren die Grünen. Aus Gelb und Blau läßt sich politisch eine bessere Farbe mischen, als aus Rot und Schwarz ein Braun, das wir kennen. Aber bleiben wir beim Feldvermesser: er vermißt ein Stück Land, das er nachher nicht bebauen muß, auf das er keinen Fuß zu setzen braucht. Wie der Soziologe.

Ich nehme jetzt einmal an, daß Sie spätestens beim Korrekturlesen auf Ihre eigenen Sätze stoßen. Sie erklären die damalige Situation so: „Überall konnte man wirtschaftliche Prosperität, Zuwachs an Ausbildungschancen und tendenziell gefestigte Demokratie (verglichen etwa mit den düsteren Prognosen der dreißiger und frühen vierziger Jahre) beobachten“ (also in der Zeit des tausendjährigen Reiches). Macht, fragen Sie, wie man sagt, zuviel des Glücks übermütig?

Eine freche Behauptung, in diesem Zusammengang. Wir hatten es, nehme ich an, mit ähnlichen Studenten zu tun. Welches Glück hätte diese übermütig machen können? Die Familie, die Gesellschaft? Unsere Studenten waren vielleicht finanziell etwas besser ausgestattet als wir (bei einigen von ihnen mag das so gewesen sein), aber haben Sie nicht gemerkt, wie wütend diese Generation gesehen hat, unter welch autoritären, aber gleichzeitig auch privilegierten Bedingungen wir die Machtpositionen, auch die Professorenstellen, zugeschanzt bekamen.

Bei denen, die auf etwas krummen Wegen wie Sie oder Habermas (oder ich) in die Positionen geschoben wurden, läßt sich, biographisch, der Bonus der Quereinsteiger noch immer ahnen. Aber ich bleibe bei Ihren Formulierungen: „Man könnte denselben Schritt“ - gemeint sind die glücksübermütigen Studenten - „auch als Sequenz der Ausdifferenzierung von Funktionsystemen begreifen, die von großen Hoffnungen und Vorschußlorbeeren begleitet waren und dann in den organisatorischen Realsierungen der Industriebetriebe, der Bürokratien und oligarchischen Parteistrukturen sowie schließlich der Schulen und Universitäten enttäuschen mußten. Die Lobsprüche und Legitimationsfloskeln der Alten gaben den noch nicht arrivierten Jungen keinen Sinn.“

Viel Luhmann, das gedrängt daherkommt, und natürlich könnte jemand fragen, wo hier die theoretische Strenge bleibt, die sie im Aufsatz einfordern. Ihre Leitidee: die Gesellschaft war auf dem richtigen Weg, aber Bürokratie und Erziehungsanstalten haben versagt. Geschenkt, das sagten, ohne genauer hinzusehen, nach einer Weile viele Kolumnisten.

Vielleicht aber hat Michel Serres ja recht: „Wer in einer Einfriedung lebt, verzehrt den Vorrat und schmarotzt an dem, was die Schließung des Systems rechtfertigte. Es ist für und durch die Parasiten geschlossen. Wer daraus ausgeschlossen ist, hat keine Aussicht auf Essen, hat keine Speisekammer mehr. Er muß sich mit dem begnügen, was er findet, muß sein Glück in der Welt suchen. Entweder stirbt er, oder er wird verrückt. Er wird toll, oder er wählt den Weg des Genies und wird Produzent. Mit dem, was er vom Boden aufliest und was niemandes Aufmerksamkeit erregt hat, mit den Rückständen der Teilmengen und der Zellen, mit dem Kehricht, das er auf den Rieselfeldern aufgeklaubt hat, mit den Bissen vom Festmahl der Herren gelingt es ihm, ein Werk zu schaffen. Oder er stirbt. Das Werk ist für ihn eine Frage von Leben und Tod.“

Unrein, nicht streng genug - aber erinnert es Sie an nichts? „Everybody's got something to hide, exept me an my monkey“, zitieren Sie. Streichen wir mal die zweite Hälfte. Könnte es nicht sein, daß unser Fach so öd geworden ist, weil wir uns in unseren Wüsten einigeln. Was ist das für eine Position, von der aus man die Gesellschaft beobachten, kritisieren, eventuell angreifen kann, ohne selbst dazuzugehören? - O ja. Aber trifft das für uns nicht mehr zu als für die von Ihnen Kritisierten? Sie schreiben den einen Satz, der mir gefällt: „Wir haben keine Labyrinththeorie, die erforschen und dann voraussagen könnte, wie die Ratten laufen. Wir selbst sind die Ratten und können bestenfalls versuchen, im Labyrinth eine Position zu finden, die vergleichsweise bessere Beobachtungsmöglichkeiten bietet.“

Wie ernst Sie Ihre eigenen Formulierungen nehmen, frage ich mich. Was den 68ern passiert ist, soweit sie Theorie als Waffe benutzt haben, sei genau das, was eine andere Thorie voraussehen und erklären könne, schreiben Sie. Die eigene, vermute ich. Und diese ist, wie Sie wissen, durch eine andere wiederum erklärbar. Das ist gut so.

Die von Ihnen ins Abseits gestellten Marxisten - Sie benennen diese nicht so, weil damit der Vorwurf diffuser wird - haben, für mich zu dogmatisch, aber streng, die ökonomischen Verhältnisse zu analysieren und zu ändern versucht, strenger und präziser, als Sie es mit Ihrem Plädoyer für kompetente Ökologen tun, denen Sie - es gibt dafür ja Exempel - gleich bestätigen, daß, wie die Roten, auch die Grünen nachdunkeln, wenn sie in Ämter kommen, weil sie dort mit einer Realität von fragwürdiger Realität konfrontiert werden. Aber ja.

In ist das sowieso, und der rasante Verlust an ökonomischen Analysen trägt das umweltbewußte Wissenschafts -Jet-Set. Natur ist wichtig. Die Gesellschaft abwägbar machen: kein Zweifel. Aber waren wir es, die die unbestreitbaren zukunftsbedrohenden Veränderungen in der natürlichen Umwelt, die die Gesellschaft selbst auslöst, zum Rationalitätsproblem dieses Jahrhunderts gemacht haben?

Wissen, wie man sich im Spiel hält - sind nicht das unsere Feldvermessungen. Schüttelt es Sie nie, wenn Sie auf Ihrem Beobachtungsposten sitzen. Wäre nicht die Natur, als Natur, ohne systemtheoretische Krücke, ernstzunehmen. Und die Gesellschaft (auch die Liebe) gehörten dazu. Kann man sich die Rolle des intern externen Beobachters, die Sie einfordern, so unbefangen aneignen? Hat die von Ihnen so gern als Prügelknabe gebeutelte sogenannte „Kritische Theorie“ nicht trotz allem näher am Leben, an den Konflikten, am Schrecken und am Unheil gestanden?

Es gibt keine unschuldigen Positionen, schreiben Sie, und da könnten wir uns treffen. Ich weiß nicht, was herauskäme, wenn Sie für einige Zeit, für einige Jahre, Ihre systemtheoretische Oberpriesterschaft ablegen würden, um genauer zu beobachten, um weniger behende der Umwelt kundzutun, was sie zu denken hat. Für eine Weile theoretische Hirngespinste zu unterdrücken: eigentlich hätte Ihnen beim Formulieren der Überschrift „Njet-Set und Terror -Desperados“ schlecht werden müssen.

Und jetzt spiel ich für einen Moment den Lehrer: Kotzen, Niklas Luhmann, kotzen. Nachher ist, so Gott will, der Kopf klarer. Um nochmals Michel Serres zu bemühen: „Als lebende Fresser von Lebewesen überleben wir, unterschiedlich gut, in der Sturzflut, die von der Sonne ausgeht. Als Sender und Empfänger von Signalen überleben wir in der Sturzflut, die zum Datensee strömt. Als gute Unterhalter und Gäste an der Tafel der Welt suchen wir leichtgewichtige Signale gegen die Objekte der Sonne zu tauschen.“ Man muß nur das Wort Sonne gegen das Wort Gesellschaft austauschen.

Wir tun so, als wüßten wir. Ob wir aus der Parasitenrolle schlüpfen können.