: taz-Endverbraucher-Test „Freiluft-Klassik“
Der Klassikbesucher auf der grünen Wiese sitzt oder liegt auf einer wesentlich solideren Basis als der Rockverbraucher: Die traditionelle Iso-Matte ist durch mitgebrachte Küchenstühle, komfortable Luftmatratzen oder gar kleinere Perserbrücken ersetzt. Alles in lockerer Formation bei Einhaltung des U-Bahn-üblichen maximalen Sicherheitsabstands zum Parzellennachbarn, wie auch im normalkulturfreien Raum. Zugunsten des im letzten Aktiv -Urlaub erprobten Gemeinschaftserlebnisses (inklusive neuer Körpererfahrung) stolpert man auch gern einfach mal ganz zwanglos übereinander. Man kettet auch den Nachwuchs nicht unbedingt an den Kinderwagen, sondern läßt ihn seine akrobatische sowie stimmliche Begabung im E-Musikbereich ausgiebig erproben.
Am Ehrentag des reinen Geistes mit Beethovens Superhit -Programm (Leonoren Ouvertüre Nr.3, 5.Klavierkonzert und 5.Sinfonie) scheint's der alltagsentrückte Hifitürmer ohnehin recht ursprünglich zu lieben: Im Rahmen der Serie „Die Masse und das Indiviuum“ empfängt das Volk einerseits gemeinschaftsgefühlig und geduldig die frohe Botschaft der scheppernden Bläser aus der Freiraumbeschallungsanlage. Andererseits werden süße Erinnerungen an zärtliche Stunden geweckt: Leonore klingt wie die intime telefonische Übertragung der Lieblingsschallplatte eines geliebten Menschen.
Im großen, großen Halbrund der radial vierhundert Meter messenden Aura des Erhabenen sind natürlich auch grenzüberschreitende Erfahrungen im Leib-und Magenbereich garantiert. „Die Völker rücken immer näher zusammen“ (Dirigent Yehudi Menuhin), und so gibt‘ s zur Vorspeise indische Brezeln (DM 1,50), als Pausen- und Zahnlochfüller 10 Meter Lakritze, danach ein Heringsbrötchen („I like fish“) und Buchweizencrepes mit Fruchtfüllung und diverse Reispfannen. Fester Bestandteil der völkerverbindenden Sättigungsoffensive ist auch das Gyros-Mobil neben der Curry -Wurstbude, dem Klassiker der Moderne. Einige Budenlängen weiter gibt es dann abermals die Gelegenheit, sich mit (diesmal acht Metern) Lakritze zu versorgen. Und auch auf diverse Glasperlen, Schmuckstücke, Tücher und Lederhandarbeiten, vor allem aber auf die praktische Strickleiter für DM 19 und die hölzerne Möwe natur für DM 29 muß an einem solchen festlichen Abend nicht verzichtet werden.
Gegenüber Rock-Konzerten sind Klassik-Konzerte anscheinend wesentlich gesünder. So mußte der Malteser-Hilfsdienst bei den letzten drei großen Konzerten am Reichstag (Pink Floyd, Rockmarathon, Michael Jackson) immerhin 22, 21 bzw. 23 Fans ins Krankenhaus einliefern und allein bei Michael Jackson 284 mal Erste Hilfe leisten. Anfällig waren die Besucher vor allem für Kreislaufschwächen, denn bei Rock-Konzerten gilt die Devise, sofort nach Einlaßbeginn am Nachmittag einen optimalen Platz - und sei's auch in der prallen Sonne - zu okkupieren und diesen nur über die eigene Leiche wieder zu verlassen. Der Klassik-Besucher dagegen kommt pünktlich, d.h. unmittelbar vor Konzertbeginn, beginnt fünf Minuten nach acht ein Pfeifkonzert und schreckt auch nicht davor zurück, sich noch während des Konzerts zu bewegen. Glimpfliche Folgen dürften auch eventuelle Blicke des Pianisten (Justus Frantz) ins Publikum gehabt haben, während die von Michael Jackson beim unmittelbaren Aufprall auf sechszehnjährige Mädchen ein hohes medizinisches Risiko in sich bergen und oft heftige Lach- und Weinkrämpfe nach sich ziehen können (warnt der Malteser Hilfsdienst).
Die für die nächsten Jahre zu erwartende drastische Gagenerhöhung fußballfeldfüllender Klaviervirtuosen und die damit notwendig werdende Steigerung ihrer erotischen Ausstrahlung läßt allerdings auch im Klassik-Bereich ganz neue Problemstellungen erwarten. Vorerst waren aber, nicht zuletzt dank Kontaktlinsenträger Frantz, am Reichstag nur 1 Krankentransport und 53 sonstige Hilfeleistungen vonnöten. Diese wiederum im Zusammenhang mit dem im Verhältnis zum Rock niedrigeren Alkoholkonsum und dem entsprechend gesteigerten Limonadenaufkommen, was dafür die Insektenstichrate erheblich erhöht hat.
Was den Müllanfall betrifft, so ist dieser bei klassischen Konzerten nicht wesentlich geringer als bei Rockveranstaltungen, teilt die zuständige Beseitigungsfirma mit. Ein spürbarer Unterschied liege lediglich in der Deponiestruktur: während beim Rockkonzert der Müll gleichmäßig über den gesamten Rasen verteilt ist, fanden die 18 t bei der Klassik am Reichstag hauptsächlich in den aufgestellten Behältern ihr Zwischenlager. Die Berliner Polizei wiederum hatte die üblichen 350 Beamten im Einsatz. Sie meldete außer einem Fall von Nötigung im Straßenverkehr nach dem Ende der Veranstaltung keine besonderen Vorkommnisse, konnte dabei allerdings auch nicht stichhaltig erklären, warum sie dann während des Konzertes mit Transporten über das Gelände fahren mußte, derweil sich das von Beethoven-Fanfaren untermalte Wandeln der Kollegen hoch auf dem Dachfirst über „Dem deutschen Volke“ ganz reizend ausnahm.
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