: Kein großer Unterschied-betr.: "82 Paragraphen deutsches Reinheitsgebot", taz vom 27.7.88
betr.: „82 Paragraphen deutsches Reinheitsgebot“, taz vom 27.7.88, Seite 3
Laßt mich Vera Gaserows vorzüglichen Bericht über das drohende Ausländeraufenthaltsgesetz bitte mit einer scheinbar unerheblichen, tatsächlich aber sehr vielsagenden Geschichte ergänzen. Ihr ist zu entnehmen, daß die Ausländer - und Asylverfahrensgesetze schon heute voller Ermessensspielräume sind, die kaum eine Behörde jemals zugunsten der Betroffenen wahrnimmt.
So hat die Ausländer- und Asylbewerberinitiative Bad Bevensen zur Zeit mit einer vierköpfigen Asylbewerberfamilie aus Polen zu tun, die gleich ein halbes Dutzend Gründe gehabt hätte, dort zu bleiben, wo sie sich sowieso schon einige Monate lang befand: in jener akzeptablen Kellerwohnung irgendwo im Landkreis Uelzen. Was aber taten die zuständigen Behörden, in diesem Fall also die Lüneburger Bezirksregierung und die Uelzener Ausländerbehörde? Unerbittlich zwangen sie die Familie dazu, in einen fast 200km entfernten Winkel des Regierungsbezirkes zu „emigrieren“, den ich in diesem Zusammenhang einmal als Niedersächsisch-Sibirien bezeichnen möchte.
Warum die Behörden das taten? Einzig und allein deshalb, weil sich die Familie mit den katastrophalen Zuständen in der Sammelunterkunft, in die man sie zunächst eingewiesen hatte, nicht hatte abfinden wollen. Statt dessen hatte sie sich auf eigene Faust und vom zuständigen Sozialarbeiter ermutigt, besagte Kellerwohnung gesucht und die Miete auch noch von ihrer Sozialhilfe abgezweigt. (...) Dennoch beharrten die oben angegebenen Behörden auf ihrer Strafaktion und bestanden bis zur allerletzten Sekunde darauf, daß die Familie zu „deportieren“ sei: ein reiner Racheakt also, gegen den weder unsere persönlichen Vorsprachen in Lüneburg und Uelzen noch ungezählte telefonische Interventionen, weder eine Unterschriftensammlung noch die Einschaltung der örtlichen Gemeindeverwaltung etwas ausrichten konnte. Lediglich die Bezirksregierung, das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, wollte am Ende einlenken, wohingegen der Kreis unversöhnlich auf „Umverteilungs„-Kurs und die Gemeinde indifferent blieben.
Beide argumentierten notorisch mit bereits übererfüllten Ausländeraufnahme-„Quoten“, also rein formal und gegen alle Humanitätsgebote, die das geltende Asylverfahrensgesetz zumindest dem Papier nach noch vorsieht. Diesen Geboten zufolge hätte schon ein einziges Wort seitens des Landkreises gereicht, und die Famile wäre noch heute dort, wo sie längst integriert war, und zwar in jeder Hinsicht integriert war. Statt dessen funkt sie nun S.O.S. aus einer unbeheizbaren 40-qm-Wohnung in einer Gegend, wo die Freunde fern und weitere Hilfe illusorisch sind.
Vera Gaserows Hinweis darauf, daß „den Rechtsvorschriften zuwiderlaufende Wohnverhältnisse“ künftig als Ausweisungsgrund normiert würden, gilt im Grunde genommen schon heute. Für die Betroffenen macht es jedenfalls keinen großen Unterschied, ob sie nach Polen zurück oder aber an den niedersächsischen Arsch der Welt verbannt werden, solange beides auf amtliche Ausländerfeindlichkeit und Bürokratenwillkür zurückzuführen ist. Außerdem sind wir gespannt darauf, welche Folgen das eigenmächtige Verlassen der Sammelunterkunft wohl noch für das eigentliche Asylverfahren haben wird.
J. S-M.
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