: Schulpolitik gegen Behinderte
Der hessische Sozialminister verbietet behinderten Kindern den gemeinsamen Grundschulbesuch mit nicht behinderten Kindern / Eltern- und Lehrerkampagne erfolglos / Krach in der Koalition ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt (taz) - Die christdemokratische Wahlkampfformel von der „freien Schulwahl“ für die Eltern hessischer Kinder wird von der hessichen CDU/FDP-Landesregierung seit ihrem Amtsantritt im April 1987 ad absurdum geführt. Schon im Juni '88 konnte der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) noch gerade verhindern, daß die hessischen Lehrer zu Erfüllungsgehilfen der Wallmannschen „Eliteauslesepolitik“ wurden. Nach dem Willen der CDU-Landesregierung sollten die Lehrer die Schüler nach dem vierten Schuljahr ohne Berücksichtigung des Elternwunsches in die weiterführenden Schultypen einweisen dürfen. Das wurde vom Gericht untersagt. Doch Kultusminister Wagner (CDU) hat sich eine neue Schikane ausgedacht: Der Adlatus des Ministerpräsidenten, der bereits zu Wallmanns OB-Zeiten in Marburg dessen Pressesprecher war, hat jetzt entschieden, daß behinderte Kinder nicht mit nichtbehinderten Kindern zusammen unterrichtet werden dürfen.
Nachdem Wagner bereits 1987 einen seit Jahren erfolgreich verlaufenden Integrationsversuch im südhessischen Rüsselsheim per Erlaß für beendet erklärt hatte, versagte er am 1.August dieses Jahres zwei behinderten Kindern im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis die Einschulung in die Grundschule von Bad Soden-Allendorf. Zwei Jahre lang haben die Eltern der behinderten Kinder - zusammen mit der Leitung der Grundschule in Bad Soden-Allendorf - dafür gekämpft, daß Tim und Katharina zusammen mit den anderen Kindern ihres Geburtsjahrgangs in die erste Klasse einer „normalen“ Grundschule aufgenommen werden können, aber vergebens: Angeblich wegen der „Mehrbelastung für die Lehrer“ könne im Werra-Meißner-Kreis eine solche „integrative Klasse“ nicht eingerichtet werden, meinte Kultusminister Wagner während einer Anhörung der hessischen FDP zum Thema im Juli '88.
Doch sowohl die Lehrer an der betroffenen Schule als auch die Eltern der nichtbehinderten Kinder hatten die Integration befürwortet. Die behinderten Kinder mußten sich im Vorfeld der ministeriellen Entscheidung insgesamt acht Tests und Begutachtungen unterziehen. Auch die Ärzte und Psychologen sprachen sich für eine gemeinsame Grundschulzeit zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern aus. Das sei eine „unendliche Geschichte bürokratischer Hürden, Ablehnungen und Vertröstungen gewesen“, so der Landtagsabgeordnete der Grünen, Fritz Hertle.
Inzwischen knirscht es in der CDU/FDP-Koalition in Hessen. Die FDP will die rechts-konservative Schulpolitik der CDU nicht länger tolerieren und kündigt Widerstand an. Zusammen mit der SPD wollen die Freien Demokraten nach der Sommerpause einen Antrag der Grünen auf Integration der beiden behinderten Kinder zustimmen.
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