: Das großrussische „Gedächtnis“ regt sich
■ Die Chauvinisten-Bewegung Pamjat („Gedächtnis“) macht Gorbatschow Schwierigkeiten / Von F.Kargan
Am letzten Sonntag schoß die sowjetische Regierungszeitung 'Iswestija‘ eine Breitseite ab. Ihr Ziel waren nicht anonyme Boykotteure der Gorbatschowschen Reformen. Diesmal hatte die Contra einen Namen: Pamjat, zu deutsch „Gedächtnis“. Der konservativ-nationalistischen Bewegung, die unter Gorbatschow das großrussische Erbe immer mehr zerfallen sieht und „über jüdische Vorherrschaft in der sowjetischen Wissenschaft und Kultur klagt“ (Iswestija), warf die Zeitung Rassismus und Faschismus vor. Vor allem unter denen, die sich nach der heilen Welt des Zaren zurücksehnen, findet Pamjat Zulauf. Auch unter der Jugend. Heute hat Pamjat Ortsverbände in vielen der großen Städte.
In Leningrad hält die Organisation jeden Donnerstag Kundgebungen ab. Vor kurzem veröffentlichte das reformorientierte Wochenblatt 'Moscow News‘ einen Leserbrief, in dem es hieß, am 7.Juli habe ein Kundgebungsredner die Deportation von Juden und anderen „fremden Rassen“ verlangt. Seitdem läuft eine heftige Auseinandersetzung um die Pamjat-Versammlungen. In der vergangenen Woche war der Protest gegen die Chauvinisten so stark geworden, daß schließlich am Tag vor der wöchentlichen Kundgebung die bis dahin übliche Genehmigung widerrufen wurde. Wie Iswestija zu berichten wußte, hatten zuvor noch Parteifunktionäre versucht, mit Druck auf die Genehmigungsbehörde Pamjat zu helfen. Schließlich trafen sich - ohne Genehmigung - rund 200 Pamjat-Sympathisanten in den Leningrader Riumantsow-Gärten, unbehelligt von der Miliz. Die nahm statt dessen fünf Personen fest, die gegen die Pamjat demonstrieren wollten. Schon eine Woche zuvor konnten die Chauvinisten fast drei Stunden lang an der gleichen Stelle ungehindert Unterschriften sammeln und Reden halten.
In der öffentlichen Diskussion wird auch auf die Nazi -Sympathien der russischen Nationalisten hingewiesen. In der letzten Woche entdeckte die Moskauer Polizei im Koffer eines dreißigjährigen Moskauer Arbeiters neben einer ansehnlichen Waffensammlung auch eine Reihe von Nazi-Insignien: einen Stahlhelm mit Hakenkreuz und eine Offiziersmütze der deutschen Wehrmacht. Außer einem Revolver fanden die Kriminalpolizisten drei Mauser-Pistolen und Munition für eine Kalaschnikow-Maschinenpistole sowie ein Foto, das den Besitzer des Koffers in einer Uniform zeigt, „die der eines Offiziers der Hitler-Armee beinahe entsprach“, wie die Moskauer Zeitung 'Sojwetskaja Rossija‘ meldete.
Die Partei ist endgültig verloren, das Land droht zugrundezugehen ... dunkle Kräfte übernehmen die Macht im Kreml und errichten bedenkenlos eine neue Diktatur ... alle Spuren der Geschichte sollen ausgelöscht werden, ein neuer Mensch herangezogen - ohne Gefühle, ohne Gedächtnis, ohne Wurzeln ...
Es klingt wie ein Szenario für das Moskau nach dem Sturz Gorbatschows. Doch der Redner, der sich in einem schattigen Klostergarten der Hauptstadt an seiner apokalyptischen Vision erhitzt, spricht keineswegs von der Zukunft. Der „Putsch gegen das Volk“ - davon ist Dimitri Dimitrewitsch Wassiljew fest überzeugt - hat sich längst vollzogen.
Gebannt von den düsteren Worten des Führers, sind die rund hundertfünfzig Zuhörer enger zusammengerückt. Männer in schwarzen Hemden, in strammer Haltung und mit den unruhigen Augen von Leibwächtern; junge Frauen mit Kopftüchern, die ihre Kleinkinder fest an sich drücken; ein dekorierter Kriegsveteran, dem es schwerfällt, seine Rührung zu verbergen. Sie alle scheinen auf Anhieb zu verstehen, was gemeint ist, als Wassiljew die „Kosmopoliten“ geißelt und damit jenes Wort benutzt, mit dem der Anti-Semitismus der Stalin-Jahre die Juden bezeichnete. Nicht um ihre Gegner zu schonen, sondern um sich selbst zu schützen, sind die Aktivisten der Bewegung vorsichtig in ihren Äußerungen. Kein Wort soll Angriffsfläche für die Juristen sein, kein sowjetisches Gesetz mißachtet werden. Wer sich von den Attacken Wassiljews betroffen fühlt und von Anti-Semitismus redet, der hat nach den Worten von Pamjat selbst das Urteil über sich gesprochen: eben ein Zionist.
Zwanzigtausend Miglieder hat Pamjat nach eigenen Angaben allein in Moskau. Aber nicht nur in der Hauptstadt, auch in Leningrad und in mehreren sibirischen Großstädten hat die national-konservative Bewegung kräftige Lebenszeichen von sich gegeben. Von erheblichem Selbstvertrauen zeugt die Prominenz der Feinde, die Pamjat sich auserkoren hat. Allen voran Alexander Jakowlew, Politbüromitglied und - nach Ansicht vieler sowjetischer Intellektueller - der liberalste Kopf in der unmittelbaren Umgebung des Generalsekretärs. Pamjat führt gegen Jakowlew einen Verleumdungsprozeß. Der Kreml-Politiker hatte sie in sowjetischen Zeitungen als gefährliche reaktionäre Gruppe bezeichnet und ihren Anti -Semitismus hervorgehoben. „Jakowlew ist der gefährlichste von allen“, sagt Pamjat-Aktivist Nikolai Alexandrowitsch Detkow. „Er will Rußland nach ausländischen Modellen umbauen und unsere eigenen Traditionen mißachten.“ Die Parteikonferenz Ende Juni hat die Pamjat-Mitglieder kalt gelassen. „Es zeigt sich immer wieder, daß Glasnost nicht fürs Volk bestimmt ist“, erklärt Wassiljew, der Ideologe der Bewegung. Die Anliegen von Pamjat seien bei aller Diskussion nicht zur Sprache gekommen.
Aber nicht nur mächtige Feinde hat Pamjat. In den konservativen Führungszirkeln finden sich auch gewichtige Fürsprecher. Am deutlichsten - aber auch nur indirekt - hat sich bisher der prominente Schriftsteller Valentin Rasputin zu Pamjat bekannt. Bei einer Diskussion mit Studenten, die im Fernsehen übertragen wurde, zählte Rasputin die Ziele der Organisation auf, die er voll unterstützen könne: Naturschutz, Denkmalspflege, Anti-Alkohol-Kampagne und vor allem eine patriotische Erziehung. Und noch weiter oben findet Pamjat vermutlich eine schützende Hand: Jegor Ligatschow, der zweite Mann im Kreml, hat die Vertretung des verreisten Parteichefs mit einem denkwürdigen Auftritt angetreten. In der abendlichen „Wemja“, der meistgesehenen Fernsehsendung der Sowjetunion, sprach Ligatschow fünf Minuten lang zu jenen beiden Themen, die Pamjat auf ihre Fahnen geschrieben hat: Unabhängige Organisationen sollten sich verstärkt um diese wichtige propagandistische Aufgabe kümmern, Namen nannte Ligatschow keine - oder zumindest nicht so, daß man ihn zitieren könnte. Wer aber die Ohren spitzte, dem konnte nicht entgehen, daß der strenge Aufseher der Reformpolitik in seinem trockenen Vortrag zweimal ein Wortspiel verwendete: Zweimal baute Ligatschow seine Sätze so, daß direkt aufeinander - nur durch einen Punkt getrennt
-die Wörter „Gesellschaft“ (obschestwo) und „Erinnerung“ (pamjat) verwendete. Zussammengesetzt ergeben diese Wörter den offiziellen Namen der umstrittenen Gruppe.
Zufall oder nicht. Der Journalist Witalij Korotitsch, Chefredakteur des kritischen Wochenmagazins 'Ogonjok‘ glaubt jedenfalls, daß Pamjat „nur der Schwanz eines großen Hundes ist - nicht der Hund selbst. Und daß hinter der Ecke im verborgenen jemand diesen Hund unentwegt füttert.“
Für eine russische
Renaissance
Nahrung bekommt Pamjat zweifellos durch die Krisenerscheinungen, welche die sowjetische Gesellschaft seit den späten Breschnew-Jahren in immer schnellerem Rhythmus durchlebt. Alkoholismus, Drogen und der Nihilismus einer desillusionierten Jugend sind denn auch die immer wiederkehrenden Themen, an denen sich die Entrüstung der Pamiat-Führer entzündet. Verstanden fühlten sich viele Pamjat-Mitglieder deshalb von einer Leningrader Chemiedozentin namens Nina Andrejewa, die im März als Autorin eines Leserbriefs von sich reden machte, der eine heftige öffentliche Konferenz auslöste. Hinter dem Brief, der die Reformpolitik für die Krise verantwortlich machte, wird in Moskau die Hand Jegor Ligatschows vermutet. „Vieles in dem Brief stimmt absolut,“ sagt Pamjat-Sprecher Nikolai Detkow. „So zum Beispiel, wenn dort steht, daß man nicht Stalin allein die Schuld für alle Übel unserer Gesellschaft geben kann.“ Wenn Pamjat auch Stalins Zwangskollektivierung als „Verbrechen am alten russischen Dorf“ ablehnt, wenn dem Diktator auch die gnadenlose Verfolgung der Gläubigen und die Zerstörung unzähliger Kirchen nicht verziehen werden, so symphatisiert man doch mit der Vorstellung einer russischen Renaissance unter streng autoritären Vorzeichen. Hier ergeben sich wohl Berührungspunkte mit dem Programm Ligatschows.
Ein Besuch im Hauptquartier der Pamjat im Zentrum von Moskau enthüllt, wie in der Enge der Stalin- und Breschnew -Jahre aus nationaler Nostalgie eine kämpferische Bewegung von erheblicher Sprengkraft geworden ist. Schon die Anordnung der Räume läßt vieles erahnen. Die Wände überladen mit Fahnen, Wimpeln und Fotos aus der Zarenzeit, darunter die nackte Architektur einer „Kommunalnaja Kwartira“, einer Art kommunalem Zwangsquartier, wie es bis heute für Millionen von Moskauern den Alltag bestimmt: eine Flucht Zimmer, in der 4 oder 5 Familien wohnen, mit einem Flur, einer Gemeinschaftsküche und einem Gemeinschaftsbad. In einem dieser Räume hat Wassiljews sechsköpfige Familie dicht zusammengedrängt gelebt, oft ein Übergangsquartier für Zuzügler vom Land, das zur ständigen Bleibe wird. Durch einen bis heute ungeklärten Mord hat Wassiljew seine Frau verloren. Eine Wende in seinem persönlichen und politischen Leben, wie er sagt. Der Kampf gegen Kriminalität, gegen Unordnung und Chaos sollten von nun an sein Hauptmotiv werden. Gleichgesinnte fand Wassiljew bei ehemaligen Bauern, die sich in der Anonymität der Großstadt schlecht zurechtfanden. Bei strenggläubigen Christen, denen die Haltung der offiziellen Kirche zum Staat zu kompromißlerisch war. Bei Intellektuellen, die in der Beschwörung des alten Rußland die einzige noch verbleibende Zukunftsperspektive sehen.
Allmählich zogen die Mieter aus den Nachbarzimmern aus, Wassiljews Wohnung wurde zum Hauptquartier. Wassiljew selbst ist Fotograf. Aus seinen Aufnahmen, die den düsteren Korridor bis zur Decke ausfüllen, spricht immer dasselbe Motiv: die alte russische Kultur als Opfer der Zerstörung. Einige seltene Aufnahmen aus der Frühzeit der Pamjat -Bewegung zeigen Wassiljew und seine Anhänger bei symbolischen Akten: ein Gedenkgottesdienst für den russisch -zaristischen General Alexander Suworow. Vor zweihundert Jahren hat er dazu beigetragen, Russlands Grenzen nach Süden hin auszudehnen. Der General steht zwar auch in der offiziellen sowjetischen Ahnengalerie. Aber aus Rücksicht auf die damals unterworfenen Völker will man seiner doch nicht allzu offen gedenken. Ein typischer Ansatzpunkt für Pamjat: in der Pamjat-Ahnengalerie hängt auch ein Porträt des letzten Zaren Nikolaus II. Losungen wie „Mut und Tapferkeit jeden Tag“. Und Antisemitismus in der Tradition der russisch-orthodxen Kirche. Wassiljew zitiert ein berüchtigtes angebliches Dokument, um seine Thesen zu untermauern: die „Protokolle der Weisen von Zion“, angefertigt von zaristischen Geheimdienst. Den russischen Juden sollte damals ein weitverzweigter Komplott unterschoben werden, um die Pogrome gegen sie zu rechtfertigen.
Dimitri Wassiljew zieht die alte Fälschung heran, um sie auf die Gegenwart anzuwenden. Nicht die kommunistische Partei trage die Schuld für die Zerstörung des russischen Dorfes, für die Zertrümmerung der Denkmäler - sondern eine Gruppe innerhalb der Partei. Und: „Es ist ja nicht meine Schuld, daß es immer Leute jüdischer Herkunft waren.“
Schützende Hand
Sogar das Moskauer Stadtbild sieht Wassiljew vom Zionismus geprägt. Die Gebäude am Kalinin-Prospekt öffnen sich wie Bücher - für Wassiljew sind es „die fünf Bücher Mose“ ... Wenn Pamjat öffentlich auftritt, scheint eine unsichtbare Hand sie zu schützen. Anders als die meisten unabhängigen Basisgruppen und Komitees haben Pamjat-Kundgebungen noch nie mit Polizeigewalt und Verhaftungen geendet. Auch nicht bei ihrem letzten großen Treffen am Moskauer Donskoi-Kloster, der Grabstätte längst ausgestorbener Moskauer Familien, unter ihnen die Familie des russischen Nationaldichters Puschkin. Moskauer Pamjat-Mitglieder hatten einen freien Samstag geopfert, um den verfallenen Friedhof zu reinigen und zu restaurieren - ein „kommunistischer Subbotnik“, mit neuem nationalen Inhalt gefüllt. Nach dem Einsatz traf man sich vor der Klostermauer zur Gründungsversammlung der neuen „Patriotischen Front Pamiat“, wie sich die Bewegung von nun an nennt. Nach einer Stunde flammender Reden gegen die „kosmopolitische Verschwörung“ kamen zwei Polizisten vorbei. Zufällig, wie es schien, denn die Sicherheitsbeamten erkundigten sich zuerst mehrmals, wie denn diese Organisation heiße. Ob Wassiljew eine offizielle Demonstrationserlaubnis vorweisen könnte, wollte einer der Polizisten wissen. Der Pamjat-Sprecher fertigte die Beamten mit wenigen Sätzen ab: Das sei alles andere als eine Demonstration. Könne man sich denn eine Demonstration ohne Losungen vorstellen? Hohngelächter der Umstehenden trieb die Polizisten zum Rückzug. Nach einen Telefongespräch mit ihren Vorgesetzten verschwanden sie von der Bildfläche. Wenige Tage später wurde am Moskauer Puschkin-Platz ein Dutzend Demonstranten verhaftet, als sie im Chor die Losungen Gorbatschows - Glasnost und Perestroika - skandierten.
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