Ein kleines Dorf trotzt Spaniens Armee

„Kein Schießplatz für Anchuras“ fordern die Transparente / Spaniens Militärs hatten damit nicht gerechnet / Ein Dorf mit fünfhundert Seelen hält mit seinen Protesten gegen einen geplanten Truppenübungsplatz ganz Spanien in Atem / Die Übungsbomben könnten ein nahegelegenes AKW treffen / Tausende Spanier haben sich mit Anchuras solidarisiert  ■  Aus Anchuras Antje Vogel

Nichts ist wie sonst in Anchuras. Eigentlich müßte um diese Zeit das ganze Dorf Siesta halten, und nur ein paar Fliegen dürften verloren durch die Kneipe surren. Doch heute kommt der dicke Wirt Felipe kaum mit dem Bedienen nach. Besucher aus der ganzen Gegend drängen sich an der Theke: „Komm zur Demonstration und rette die Nation vor soviel Luftfahrt“, steht auf einem Schild hinter dem Tresen. Felipe und seine Familie gehen mit gutem Beispiel voran: Um Punkt sieben machen sie dicht, damit niemand die Demo verpaßt.

Tausende sind gekommen, um die 518 Einwohner des Dorfes Anchuras in ihrem Widerstand gegen ein geplantes Bombenabwurfgelände der spanischen Luftwaffe zu unterstützen. 6.750 Hektar im Umkreis des Weilers sollen dem Übungsplatz zum Opfer fallen, ausgerechnet das am intensivsten genutzte Land: Getreide wird hier angebaut, es gibt Korkeichen und Olivenhaine. Hirten ziehen mit Schaf und Ziegenherden durch die Hügel und mindestens ein Drittel der männlichen Bevölkerung geht auf Rebhuhn- und Wildschweinjagd.

Die Regierung in Madrid mag sich die Übergabe des Geländes einfach vorgestellt haben. Eine gottverlassene Gegend in Kastilien-La Mancha, karge Hügel von ein paar Bäumen durchsetzt, in der Mitte das Dörfchen Anchuras, durch zwei Jahrzehnte Emigration immer kleiner geworden - wer sollte sich da wohl wehren?

Doch die Einwohner ähneln nicht nur in ihrem Interesse an Wildschweinen jenem kleinen gallischen Dorf zu Zeiten der Römer. Verteidigungsminister Narcis Serra sah sich bereits im Juli mit einem widerbostigen jungen Bürgermeister konfontiert, der die Rechte seiner winzigen Gemeinde rigoros verteidigt. Seither reißen die Proteste nicht ab. Die Einwohner vermuten, daß das Gelände nicht nur spanischen Fliegern, sondern auch Piloten aus anderen NATO-Staaten zur Übung dienen soll. Verdächtig ist ihnen darüber hinaus, daß in der nahegelegenen Kleinstadt Talavera de la Reina die Errichtung einer Pilotenschule geplant ist: „Jahrelang wurde an der Straße zwischen Talavera und Anchuras herumgebaut, ohne daß sie je fertig geworden wäre. Jetzt plötzlich wurde innerhalb von zwei Wochen ein großes Straßenstück geteert. Das ist mit Sicherheit eine Vorbereitung für den Schießplatz“, vermutet Jaime, der in Madrid lebt, sich aber in Anchuras zu Hause fühlt. Daß das Gebiet nur etwa 15 km Luftlinie vom im Bau befindlichen AKW Valdecaballeros entfernt ist, störte die Regierung offenbar ebensowenig wie die Gefahr, daß der nahegelegene Staudamm eine Bombe abkriegen könnte. „Wenn das passiert“, erklärt der Vizebürgermeister von Anchuras, Eduardo Corrachano, „dann wird das ganze Gebiet bis hin nach Portugal überschwemmt.“ Umweltgruppen unterstützen den Widerstand von Anchuras und weisen auf die ökologische Eigenart ds Gebietes hin.

Königsadler gibt es hier noch und Bergkatzen, selbst die seltenen Fischotter wurden gesehen. Sämtliche Parteien mit Ausnahme der regierenden Sozialisten haben sich dem Protest angeschlossen, auch der sonst recht zurückhaltende Bischof der Kreishauptstadt Ciudad Real solidarisierte sich. Inzwischen wurde landesweit eine Unterschriftenaktion angeleiert, die vollständigen Listen sollen dem Parlament übergeben werden. Die Presse ist ständiger Gast im Dorf, der junge Bürgermeister zur Zeit der meistfotografierte Mann Spaniens.

An diesem Sonntag - dem vorläufigen Höhepunkt der Protestaktionen - hat Anchuras zu einer Demo im Dorf aufgerufen. Seit Tagen schon liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Jugendlichen haben die Mauer an der Hauptstraße mit Sprüchen verziert: „Leben, nicht sterben“, steht da, „Nein zum Schießplatz“. Grauhaarige Frauen haben Nachmittage lang im Rathaus Armbinden für den Ordnungsdienst genäht, aus den Fenstern hängen Transparente.

„Ich habe zwei Bettlaken geopfert“, erzählt die alte Dona Carmen, die ein paar Zimmer vermietet. „Großmutter, schau her!“ rufen Kinder auf der Straße und zeigen ihr Produkt. „Bono, Hurensohn!“ steht auf Dona Carmens Bettlaken. Bono ist Ministerpräsident von Kastilien-La Mancha und unterstützt den Übungsplatz. Dona Carmen macht ein skeptisches Gesicht. Doch als um acht die Demo losgeht, ist auch sie dabei. 5.000 mögen es sein, die aus den umliegenden Dörfern und Städten nach Anchuras gekommmen sind. Langhaarige Ökos, Anarchisten in Latzhosen, Christdemokraten und Kommunisten laufen neben jungen Frauen im Sonntagsstaat und mageren Bauern mit Strohhut. In erster Reihe marschieren die Stadträte von Anchuras mit entschlossenem Gesicht, vor ihnen eine Meute Fotografen. „Militärs, soziale Parasiten“, schreien hinten die Pazifisten, während sich die Anchurener lieber an die Regeln der Pozessionen halten: ernst und würdevoll.

Eine halbe Stunde lang drängte sich die Menge durch die Gassen, dann ist der Zug wieder an der Plaza, dem Ausgangspunkt, angelangt. Eine Statue wird enthüllt, ein leidender Mensch in Stein mit dem Titel „Vorhersage der Trostlosigkeit“. Von einem Fenster aus spricht der Bürgermeiser Santiago Martin. Er fordert seine Mitbürger auf, dem Druck nicht nachzugeben und ihr Land nicht zu verkaufen. Heftiger Beifall. „Hoch Santiago“ schreit einer. Das Dorf ist stolz auf ihn.

Inzwischen ist die Sonne untergegangen. Die jugendlichen Ordnungshüter geben die Absprerrung vor der Skulptur auf und verteilen Sangria. „Eine tolle Demo“, sagt ein alter Mann. „Aber ob das was nützen wird?“

Am nächsten Morgen ist wieder die gewohnte Ruhe eingekehrt. Auf dem Kopfsteinpflaster liegen Flugblattreste, am Zaun an der Plaza steht ein vergessenes Transparent. Der einzige Bus, der täglich Anchuras verläßt, fährt heute nicht. Es ist Feiertag. Der Tag der Jungfrau Maria. „Sonst haben wir an diesem Tag immer das Fest der Emigranten gefeiert“, klagt eine junge Frau. „Aber dieses Jahr fällt es aus. Dieses Jahr tragen wir Trauer.“