Solidarnosc mit Kompromiß auf Erfolgskurs

Streikwellen in Polen für Lohnerhöhungen und Wiederzulassung von Solidarnosc / Immense Lohnforderungen der Kumpel bringen Solidarnosc in die Zwickmühle / Sie widersprechen dem volkswirtschaftlichen Konzept der Gewerkschaft  ■  Von Klaus Bachmann

Berlin (taz) - Die neue Streikwelle in Polen beginnt zu einer Zeit, in der unklar ist, ob die polnische Opposition die letzte Streikwelle vom Mai bereits verarbeitet hat. Letzten Monat sorgte die Solidarnosc-Beraterin und Soziologin Jadwiga Staniszka mit einem Aufsatz in der Untergrundwochenzeitschrift 'Tygodnik Masowsze‘ für heftige Diskussionen in Solidarnosc-Kreisen. Sie behauptete nämlich, die Streiks im Mai seien eine gezielte Provokation gewesen, um die Gewerkschaftsbewegung zu schwächen. Absichtlich, so die Soziologin, hätten Geheimdienst und offizielle Gewerkschaften die Streiks provoziert zu einem Zeitpunkt, auf den Solidarnosc nicht genügend vorbereitet war. Die Redaktion des 'Tygodnik Masowsze‘ verwarf zwar diese „Verschwörungstheorie„; andere Solidarnosc-Berater wie Jacek Kuron geben aber zu, daß die Streiks für die Gewerkschaft zu früh kamen. Man hatte, wie Lech Walesa damals erklärte, ein anderes Szenario vorgesehen: Erst im August - also jetzt sollte es losgehen, und dann sollten zuerst kleinere Betriebe bestreikt werden, erst zum Schluß die großen Hütten und Werften.

Doch im Mai kam es anders: Der Ausstand begann in diesen Betrieben; Solidaritätsstreiks blieben weitgehend aus, schließlich prügelten Polizisten die Arbeiter aus der Leninhütte und die Belegschaft der Danziger Werft gab selbst auf. Seitdem werfen vor allem radikalere Gewerkschafter ihrer Führung vor, zu nachgiebig gewesen zu sein, und stellen sich die Frage, ob die Bewegung im Mai versagt hat. Das Problem stellt sich nun erneut.

Aktivisten der Gewerkschaft weisen aber auch darauf hin, daß die Maistreiks besonders in den damals betroffenen Betrieben zu mehr Zusammenhalt und einer Stärkung von Solidarnosc geführt hätten. Jan Rokita, im Mai Sprecher für die Streikenden in Nowa Huta: „Trotz allem hat Solidarnosc in Nowa Huta seitdem mehr Rückhalt und auch mehr Mitglieder.“ Und in der Danziger Werft habe die illegale Gewerkschaft sogar ganz offen Wahlen zu den Gewerkschaftsgremien durchführen können.

Die starke Unterstützung durch Berg- und Hüttenarbeiter ist für die Gewerkschaft politisch allerdings nicht ohne Probleme. Obwohl der Lohn der Bergarbeiter, wie diese zutreffend klagen, für den Unterhalt ihrer Familien häufig vorne und hinten nicht reicht, sind sie eine der bestbezahlten Einkommensgruppen in Polen. Ein Kumpel verdient drei- bis viermal soviel wie beispielsweise ein Lehrer oder selbst ein Schuldirektor; sie haben eigene Läden, in denen sie zu ermäßigten Preisen knappe Waren wie Fernseher, Kühlschränke oder Waschmaschinen kaufen können. Und dies, obwohl sie in einer Branche arbeiten, deren Existenzberechtigung inzwischen nicht mehr nur von Oppositionellen bezweifelt wird. Viele Hütten und Werften sind, obwohl Polen Kohle gegen Devisen exportiert, Zuschußbetriebe, die noch dazu die Umwelt enorm belasten. Während der Streikwelle im Mai drohten die Behörden mehrmals mit der Schließung der Danziger Werft, worauf die Streikenden empört protestierten. Gerade aber zahlreiche mit Solidarnosc verbundene Wirtschaftsfachleute fordern eine Abkehr von diesen Großindustrien. Aus volkswirtschaftlichen Gründen müßte die Gewerkschaft daher den teilweise immensen Lohnforderungen wie in Jastrzebie widersprechen. Diese heizen nur die Inflation an, denn der neugeschaffenen Kaufkraft steht ja kein entsprechendes Warenangebot gegenüber. Andererseits aber sind viele Arbeiter davon überzeugt, daß die Forderung, Solidarnosc zu legalisieren, für die Regierung unannehmbar ist. Sie setzen daher vor allem auf höhere Löhne. So sind viele Forderungspakete der Streikenden ein Kompromiß zwischen dem Anliegen der Streikkomitees und der Stimmung in der Belegschaft. Die Regierung ihrerseits ist viel geneigter, auch immensen Lohnforderungen nachzugeben, wenn sie damit die Wiedererweckung von Solidarnosc verhindern kann. Da geraten dann auch die hehren Ziele der Wirtschaftsreform in Vergessenheit. Gemäßigte Walesa-Berater wie der Warschauer Historiker Geremek weisen denn auch stets darauf hin, daß die auch von ihnen begrüßte Reform nur Erfolg haben kann, wenn die Arbeiter dafür etwas erhalten, was sie Einschränkungen akzeptieren läßt: authentische Gewerkschaften. Nur eine Gewerkschaft, die das Vertrauen der Arbeiter hat, könne diese von wilden Ausbrüchen abhalten. Sonst droht, was der Solidarnosc-Berater und Wirtschaftsexperte Aleksander Paszynski schon letztes Jahr an die Wand malte: „Streiks, Preiserhöhungen, wieder Streiks und so weiter.“ Mit anderen Worten: Das Ende der Wirtschaftsreform, zu der sich beide, Solidarnosc und Regierung, bekennen.