: Die Anstrengung des Hörens
■ Zum Tode von Hans Heinz Stuckenschmidt
Konrad Boehmer
Bis ins hohe Alter war er so präsent, daß man ihn sich nicht wegdenken kann. Mit Hans Heinz Stuckenschmidt ist einer der ganz wenigen gestorben, die die Kontinuität der deutschen Musik unseres Jahrhunderts getragen haben, eine Kontinuität, die das Land selber nicht zu garantieren vermochte. Den Jüngeren war Stuckenschmidt so selbstverständlich, daß sein Tod ihnen so unwahrscheinlich erscheinen mag wie der einer Institution. Eine Institution aber ist er nie gewesen, weil er sich allem entzog, was danach roch, jeglicher Partei oder Schule. Seine Autorität kam aus der Sache, niemals aus der Masse derer, die sie mittrugen.
Seine musikalischen Studien machte er außerhalb der offiziellen Lerhanstalten, musikalische Analyse und Komposition studierte er beim ordentlichsten Anarchisten der neueren Musikgeschichte, bei Arnold Schönberg. Dessen Biographie hat er später geschrieben. Sie ist ein Meisterwerk moderner Musikgeschichtsschreibung. Wie Schönberg ist auch Stuckenschmidt ein Ungemütlicher geblieben: Nie hat er sich im Konsensus ausgeruht oder in jenem wohligen Mief, in dem das deutsche Musikleben seinen Kritikern zu gedeihen gestattet. Die einzige „Gruppe“, der er jemals angehörte (die musikalische Sektion der „Novembergruppe“ zusammen mit Weill, Wolpe und Eisler) hat sich niemals wirklich konsolidiert: Ihre Mitglieder waren zu individualistisch.
Stuckenschmidts Kompositionsversuche sind marginal geblieben. Das war ihm bewußt. Im Gegensatz zu vielen Musikkritikern, die ihr eigenes kompositorisches Unvermögen den andern, den Komponisten übelnehmen, hat Stuckenschmidt die Einsicht in Gestaltungsprozesse, die er aufgrund seiner eigenen Bemühungen gewonnen hatte, der Kritikertätigkeit zugutekommen lassen. Gerade dies hat ihn davon abgehalten, sich zum Propagandisten nur einer Schule oder Stilrichtung zu machen. Schönberg und der Wiener Schule ist er treu geblieben, doch hat's ihn nicht daran gehindert, die Franzosen, Russen, Engländer oder Amerikaner, den Neoklassizismus oder die Neue Sachlichkeit genauso ernstzunehmen. Scharf war er in allem. Hart im Lob, mild im Tadel, kompetent in der Sache.
Wo andere Musikkritiker eilfertig urteilen, nachdem sie nur mal eben an der Sache herumgeschnüffelt haben, vertrat Stuckenschmidt - beinahe als einziger in deutschen Landen jenen anderen Typus des Kritikers, der sorgfältig das Umfeld einer Komposition abtastet, um sie besser erschließen zu können.
Vom „Herumsoziologisieren“ hat er nichts gehalten; die Frankfurter Schule blieb ihm wesensfremd. In einem österreichischen Vortrag äußerte er unumwunden seine „Gedanken zur Vernichtung des Kunsturteils durch Soziologie“. Er warnte: „Ich finde den katastrophalen Verfall des Kunsturteils und besonders der Musikkritik darin begründet, daß die Kritiker sich der bequemen Prozedur verschrieben haben, Kunsterscheinungen - ob es stimmt oder nicht - als sozial bedingt zu erklären. Was man nicht definieren kann, das packt man soziologisch an.“
Über den Kern dieser These hab‘ ich mich oft mit ihm gezankt, jedoch waren wir uns in einer Sache einig: Soziologie kann weder den Schaffensprozeß determinieren, noch das Kunsturteil ersetzen.
Sein Beharren auf der Subjektivität des Urteils, die einzig durchs Sich-Versenken in das Kunstwerk selber legitimiert ist, hat ihm den politischen Konflikt nicht erspart. Als zu Beginn der Nazi-Diktatur jener ominöse Musikkritiker Fritz Stege, der es bis zum Pressereferenten der Reichsmusikkammer brachte, Stuckenschmidt gezielt diffamierte, fehlte diesem die Sprache, in der er sich hätte wehren können. Sein sonst so vortreffliches Deutsch wurde von den Nazis nicht verstanden; sie haßten ihn, weil er in seinen Kritiken haarscharf den kleinbürgerlichen Kern ihrer großsprecherischen Musikpolitik bloßlegte.
Stuckenschmidt setzte sich nach Prag ab, um schon 1946 nach Berlin zurückzukehren, wo er beim RIAS die Abteilung Neue Musik aufbaute. Er hatte die Hoffnung, nach der Kapitulation ein Musikleben ganz ohne jenen spießigen Küchendunst aufbauen zu können. Seine Bücher, die er Fragen Neuer Musik widmete, leben ganz von jenem Geist der Unbefangenheit und Frische, der ihm Wesenskern einer nicht-totalitären Gesellschaft schien.
Daß das deutsche Musikleben sich nach der Stunde Null erneut hochgradig institutionalisierte, daß es neue Machtzentren und Monopole hervorbrachte, hat ihm zu denken gegeben, ihn aber nicht entmutigt. Er bewahrte sich konsequent jene Position der Unabhängigkeit, und wo Interessengruppen um seine Meinung buhlten, enthielt er sie ihnen vor. Dort aber, wo er spürte, daß musikalische Gedanken oder Konzepte nicht von deren Autoren, sondern nur von einer Gruppe oder Musik-Partei bestimmt waren, in denen sie Schutz vor der Verpflichtung zu eigenem Nachdenken suchten, war Stuckenschmidt unerbittlich: „Snobs sind amüsante, auf ihre Weise nützliche Leute, wenn sie unter sich bleiben. Wird aber Snobismus zur Gesinnung von Herden, so droht Unheil.“
So kompetent er sich auch über die neuen musikalischen Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre äußerte, da, wo sie zum Trend erstarrten, zog er sich zurück: Komplize von Akademismus und prätentiöser Langeweile hat er niemals werden wollen. Er hat der Anstrengung des Komponierens die Anstrengung des Hörens entgegengebracht.
Als 17jähriger Schüler verkündete Konrad Boehmer, die Musikgeschichte fange mit Stockhausen erst an. 68 zum Maoisten geworden, beschimpfte er ihn später als Imperialisten und Kapitalisten. Der 1941 in Berlin geborene Komponist studierte bei Gottfried Michael König und lernte in Darmstadt bei Boulez, Pousseur und Stockhausen. Seit 1966 lebt er in Amsterdam, seit 1972 ist er Professor für Theorie der Modernen Musik in Den Haag. 1983 wird ihm für seine Faust-Oper der Rolf-Liebermann-Preis verliehen. 1985 schreibt er: „Mir ist ein Stockhausen - wiewohl der sich ja als sein eigenes Mißverständnis aufspielt - immer noch lieber als hundert Müller-Siemense oder Trojahns, ganz einfach, weil Mangel an Anstand ein besserer Nährboden künstlerischer Tradition ist als jener neue Akdemismus.„
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen