Nichts zu verlieren

■ Machtkampf um die Wiederzulassung von Solidarnosc

Aus einem Funken kann ein Steppenbrand entstehen“, schrieb 1930 ein im heutigen Polen wenig gelesener Mann. Nachdem im Raum um Kattowice neun Zechen und in Szczecin die Transport und Hafenarbeiter in den Streik getreten und ihre Betriebe besetzt haben, hat Walensa für heute den Streik der Lenin -Werft angekündigt, falls Solidarnosc auf Betriebsebene nicht wieder zugelassen werden sollte. Gerade diese Forderung ist von Jaruzelski mehrfach kategorisch zurückgewiesen worden. Das auf dem letzten Plenum des ZK der Partei lancierte Projekt einer „proreformatorischen Koalition“ basiert geradezu auf dem Axiom, daß Solidarnosc nicht wieder erstehen darf. Dem gegenüber erklärten Solidarnosc-Sprecher, daß Verhandlungen über politische Reformen sinnlos seien, wenn der Verhandlungspartner nicht anerkannt werde. Unter diesen Voraussetzungen scheint eine Konfrontation zwischen dem Staat und den streikenden Arbeitern fast unvermeidbar.

Von allen Seiten wurde in Polen für den Herbst mit einer neuen Streikwelle gerechnet. Angesichts einer Inflationsrate von 80 Prozent und einer Steigerung des Warenangebots um ganze drei Prozent ist von der Herstellung des Marktgleichgewichts nicht mehr die Rede. Die streikenden Arbeiter wissen, daß Lohnsteigerungen rasch von explodierenden Preisen zunichte gemacht werden. Für viele von ihnen steht die Forderung nach Wiederzulassung von Solidarnosc deshalb auch im Vordergrund. Die neue Generation von Aktivisten weiß, daß sie nichts mehr zu verlieren hat. Durchbruch oder Emigration - so steht die Frage.

Christian Semler