: Gesellschaft und Narkose
■ Leslie Kaplans Prosaband „Der Exzeß“
Von Leslie Kaplan war hierzulande noch kaum die Rede. Seit kurzem ist nun das erste Buch dieser französischen Autorin in deutscher Sprache erhältlich. In neun Abschnitten umkreist es die Vorstadt, die Discountläden, die Alltagskleidung der Frauen und immer wieder die Fabrik.
„Sie ist da, ganz und gar, Teile und Stücke. Die Fabrik. Keine Richtung, sie kreist. Und hinaufsteigen und hinuntersteigen und nach rechts und nach links und aus Blech und aus Ziegel und aus Stein und die Fabrik. Und Klänge und Lärm. Keine Schreie. Die Fabrik. Stücke und Teile. Nägel und Nägel. Blech, verstehen Sie? Biegsam und schmierig. Glatt und hart. Man weiß nicht, man kann nicht wissen. Keinerlei Bild, niemals.“
Was heißt hier „Exzeß“? Sämtliche Bedeutungen, die sich mit dieser Vokabel ursprünglich verbanden (das Weggehen, die Ausschweifung, das Vergehen, der Tod) unterliegen einer merkwürdigen Umkehrung: Diese Prosa scheint alles in eine allgemeine Apathie zu binden. Niemand geht, niemand tobt, niemand rast, niemand sündigt. Auch die Maschinen nicht. Leslie Kaplan kennt keine futuristische Begeisterung für den gewaltigen Akt der Produktion. Die Dinge stehen. Auch dann, wenn man sie in Bewegung glaubt. Sie sind, aber sie tun nichts. Und vor allem: Sie beziehen sich nicht aufeinander. Bisweilen kehren sie wieder, ohne deshalb die gleichen zu sein: der Tisch, der Pflasterstein, der Abend. Die Zeitform, die Kaplans Prosa wählt, ist nicht - wie die Idee der histoire unterstellt - eine Linie oder ein Fluß. Es ist das radikale Präsens, die Punktzeit. Nicht die Ereignisse oder die Menschen bewegen sich, vielmehr bewegt sich die Darstellung von Punkt zu Punkt. Diese Prosa hält die Dinge an ihrem Platz fest, nichts kommt irgendwoher, nichts geht irgendwohin; und selbst den Tod kann sich hier keiner leisten.
Dinge und Menschen stehen nebeneinander, parzelliert und widerspruchslos: Sie scheinen sich nicht zu beeinflussen oder zu attakkieren, und insofern ist Kaplans Prosa weder dialektisch noch narrativ. Es gibt nichts zu erzählen. Auch nicht die bekannte Geschichte von den Herrschern und den Beherrschten. Diese Prosa verweigert die Zuversicht des traditionellen Romans, daß die beschriebenen Dinge immer schon mehr bezeichnen als sich selbst. Hier bedeuten sie weder symbolisch noch metonymisch etwas; sie unterstreichen nicht einmal den Beginn einer Handlung oder die Intensität einer Begegnung. Die Dinge sind, was sie sind: eine Szene nach dem Ende der Bedeutung. „Gelbe Wand, ohne Botschaft“.
Es entfällt damit auch, was seit Marx oder Zola die Kritik der Produktion bestimmt: Die Idee, daß alles oder jedes dem Ganzen, dem Plan, dem Zugriff unterliegt. Bislang erschien die Fabrik als eine grandiose Supermacht, die jeden Arbeiter an einen (inzwischen per Computer) bestimmten Platz stellt. Kaplans Fabrik kennt keine Systematik, keine Anweisung, keine Hierarchie (und eine „Kampfkraft der Unterdrückten“ schon gar nicht). Es scheint sich um eine Produktion nach dem Ende der Antreiberei zu handeln - fast schon um einen streßfreien Raum. Als liefe ein schlafwandelndes Wesen durch diese Hallen. Man mag es „spätkapitalistisch“ nennen oder „postmodern“ - jedenfalls erinnert dieses Buch an die psychische Disposition eines Kranken im Zustand perfekt konzipierter Narkose. Nach Ausschaltung des Schmerzes bleibt nichts als die Wahrnehmung. Aber, betäubt wie sie ist, findet sie kein Zentrum und kein Thema. Sie verliert sich an die Gegenstände, und in diesem Sinne ist Leslie Kaplans Prosa objektivistisch. Sie spricht von einem Totalitarismus der Objekte und damit von einem Resultat gesellschaftlicher Entsorgung: Die Institutionalisierung der Konflikte und die Automatisierung der Arbeit haben das vielbeschworene „Ich“ weit genug entrückt, als daß es noch eine Betroffenheit artikulieren wollte.
Leslie Kaplan beschreibt dies in einem beigefügten Gespräch mit Marguerite Duras so: „Ich glaube, was ich am Anfang wirklich wollte, war die Fabrik, diesen Ort, aufzuschreiben. Nicht die Handlungen, die dort stattgefunden haben, nur die Fabrik. (...) Ich denke auch an einen verrückten Ort, verrückt im eigentlichen Sinne des Wortes, das heißt, ein Ort ohne irgendeinen Halt, ein unendlicher Ort (...), ein Ort, an dem die Dinge gegensätzlich sein können, an dem sie zu gleicher Zeit sein und nicht sein können. Es ist die Entdeckung dieses, sagen wir, völlig ausgeblendeten Ortes, eines letztendlich völlig freischwebenden Ortes.“
Martin Groß
Leslie Kaplan: Der Exzeß. Aus dem Französischen von C. Baumann und G. Lerch. Manholt Verlag, 114 Seiten, 20 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen