: Die Wechsler im Tempel
■ N O C O M M E N T
Die christliche Nächstenliebe hat zugenommen seit den Tagen des Herrn. Während Christus nach seinem Einzug in Jerusalem die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel vertrieb und die Tische der Wechsler umstieß (Matthäus 21, 12; Markus 11, 15; Lukas 19, 45, nach heutigem Verständnis „Gewalt gegen Sachen“, mindestens aber Sachbeschädigung), werden die Wechsler von heute, die Banker, in die Kirche eingeladen. Die christlichen Gruppen, die das Ökumenische Hearing zum internationalen Finanzsystem und zur Verantwortung der Kirchen veranstalteten, standen mit diesem Vorhaben bei den Oberen ihrer Kirchen zunächst noch unter dem Verdacht des Radikalismus. Und in der Tat: War nicht zu erwarten, daß die mit der Dritten Welt solidarischen christlichen Gruppen das internationale Finanzsystem und seine verheerenden Konsequenzen am Wort des Vaterunser messen würden, wo es in der wörtlichen Übersetzung des griechischen Urtexts heißt: „Und erlasse uns unsere Schuld, wie wir unseren Schuldnern ihre Schuld vollständig erlassen haben“ (Matthäus 6, 12)?
An den ersten beiden Tagen des Hearings bestand wenig Anlaß zu diesem Radikalitätsverdacht. Die Diskussion verlief ruhig und ordentlich. Die Mitglieder der international und interdisziplinär zusammengesetzten Hearing-Gruppe fragten höflich und verantwortungsvoll. Und die Gruppe der Zeuginnen und Zeugen, der Expertinnen und Experten war so ausgewogen, daß sogar das Bayerische Fernsehen alles hätte live ausstrahlen können, ohne um die Seelen der Zuschauer fürchten zu müssen. Trotz der Zeugnisse über die furchtbaren Folgen der Verschuldung in Brasilien, Sambia oder auf den Philippinen drehte sich die Debatte hauptsächlich darum, welchen Prozentsatz ihrer Exporte man diesen Ländern noch legitimerweise zur Bezahlung ihrer Schulden und Zinsen abverlangen könne. Die einzigen Radikalen in diesem Kreis waren die Wechsler, die Banker. Davis Bock von der Weltbank und Festus Osunsade vom IWF waren in ihrem geradezu fundamentalistischen Credo an die welterlösende Macht des Mammon unerschütterlich.
Am dritten Tag endlich wurde eine andere Sprache hörbar. Philip Potter, ehemaliger Generalsekretär des Weltkirchenrats, beschrieb das herrschende System als ein System, in dem die Priorität nicht den Menschen gehöre, sondern den Profiten. Und Elsa Tamez aus Costa Rica zeigte, wie die Europäer vor lauter Pragmatismus den radikalen Text der Heiligen Schrift schon gar nicht mehr wahrnehmen vor lauter Interpretationshilfen. Aber da waren die meisten Ökonomen schon gegangen.
Urs Müller-Plantenberg
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