: Madrid - Ziel der „Lemminge“
■ Von Antje Vogel
Es ist völlig sinnlos, von dem diesigen Morgenhimmel einen kühlen Tag zu erwarten. Ein Schritt aus dem Haus genügt, um unverzüglich die schattige Seite der Straße aufzusuchen. Die alte Losverkäuferin an der Puerta del Sol hat sich unter einen schwarzen Sonnenschirm verzogen, Damen wedeln schläfrig mit einem Fächer, am Eingang der Konditorei „La Mallorquina“ hängt ein ausgeblichenes, schon oft benutztes Schild: „Wegen Urlaubs bis Ende August geschlossen“. Mittags stirbt Madrid völlig aus. Nur auf der Plaza Mayor trinken kurzbehoste Touristen unter Sonnenschirmen Coca Cola, vor ihnen auf einem Hockerchen der unvermeidliche Straßenmusikant. Sein ebenso unvermeidliches „Aranjuez“ oder - bei vorgerückter Stunde - „Besame mucho“ zieht melancholisch über den steinernen Platz. Arkaden werfen harte Schatten. Jeder normale Mensch bleibt nun zu Hause, zieht sich in den kühlsten Raum zurück und bewegt sich möglichst wenig, während durch herabgelassene Läden grünes Dämmerlicht fällt.
Wer am Wochenende sehnsüchtig den Urlaubern hinterhergeschaut hat, die zu Tausenden aus der Stadt in Richtung Meer geflüchtet sind, kann am Montag die blutige Bilanz dieser Reise der Lemminge in der Zeitung lesen: Fast 50 Menschen verloren am vergangenen Wochenende ihr Leben auf Spaniens überlasteten Straßen. Auch sonst geben sich die Blätter redlich Mühe, bei den Daheimgebliebenen keinen Neid aufkommen zu lassen. Seit Wochen schon werden die Urlauber eindringlich vor den Gefahren des Strandlebens gewarnt: Durch den Genuß eines Brötchens am Strandkiosk riskieren sie eine Fischvergiftung, durch das Baden im Meer Pilzinfektionen und durch das faule Herumliegen in der Sonne Hautkrebs. Wenn sie am Strand spazieren gehen, können sie leicht in eine herumliegende Spritze treten und sich mit Aids infizieren. Wer dem allem glücklich entronnen ist, trifft abends in der Disco mit Sicherheit auf einen der zahlreichen englischen Hooligans, der ihn unverzüglich zu Brei schlägt. Und während der Zurückgebliebene (Lieber zurückgeblieben als vorgeschoben... d.S.) schweißgebadet, aber wohlbehalten das Haus hütet, wird bei seinen urlaubenden Nachbarn vielleicht gerade eingebrochen. Ferien in der Heimatstadt hätten vielleicht doch ihr Gutes gehabt?
Wenn die Sonne untergegangen ist und die Temperatur auf 32 Grad sinkt, kommt langsam wieder Leben in die Stadt. Ehepaare führen ihre gebügelten Kinder aus. Der Retiropark lockt mit Freiluftkino, an der „Arabischen Mauer“, einem der wenigen Überbleibsel der arabischen Gründer von Madrid, singen Milton Nascimiento und Nina Simone. In den Straßencafes wird Mandelmilch und Gin Tonic serviert, daneben rauscht der Verkehr vorbei. Das Bett ist ein Heizkissen. Möglichst spät aufsuchen. Oder besser gar nicht.
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