Schleswig-Holstein: Sehr umschlungen

■ Drei Konzerte beim Schleswig-Holstein-Musikfestival, organisiert vom rastlosen Justus Frantz nach dem Warenhausmodell. Aber warum nicht statt shopping listening gehen?

Am Sonntag ging das 3. Schleswig-Holstein-Festival zu Ende. Bejubelt wurde es ob der glänzenden Highlights, die Salzburg alle Ehre gemacht hätten; allseits gepriesen ob der intensiven Mühen um die Nachwuchsförderung; gelobt ob der enormen Versorgungsleistung für kulturell unterentwickelte Landstriche; bespöttelt ob des jet-set-flairs, den der rastlose Justus Frantz verströmt; gerügt ob der in der Vergangenheit stark ausgeprägten politischen Bindung; bejammert von Schleswig-Holsteins Kulturschaffenden, die ihre zarten Pflänzchen plattgewalzt sehen und ganz argwöhnisch beäugt ob der finanzkräftigen Sponsoren der Industrie.

Bertelsmann, Windsor, Lufthansa, Audi und Jacobs bieten zwar alles, was der Festivalbesucher braucht, verheißen aber auch ein upper-middle-class-spectacle. Doch Programm, Austragungsorte und der gute alte Slogan „Kultur für Alle“, den Bertelsmann ja so bewundernswert einlöst, wecken die Neugier. Sollte nicht vielleicht doch etwas für die „Demokratisierung“ der Musikkultur abfallen? Musik nicht nur als zweitschönste Nebensache der Welt, sondern als echter Beitrag zur Volksernährung?

Drei Veranstaltungen habe ich mir ausgesucht, die Orientierungspunkte für die Klärung dieser Frage abzugeben versprachen: In Hamburg gastierte das New York Philharmonic Orchestra unter der Stabführung des umtriebigen Zubin Mehta. Leider fiel der Untersuchungsgegenstand weg, zuviele genußsüchtige Presseprofis drängelten sich dort so frühzeitig, für die taz war kein Platz. Das Konzert lag wohl goldrichtig im Trend der 80er Jahre: Schönberg und Webern neben Altmeister Bruckner, das nimmt das aufgeklärte Großstadtpublikum gerne mit, wenn Spitzenkräfte zu Werke gehen. Die Vereinigung der Kunst mit dem Volke war wohl nicht zu erwarten.

Damp 2000 war da weit eher

der Ort, an dem sich derartiges hätte ereignen können. An Schleswig-Holsteins schönstem Strand gelegen, inmitten wogender Felder und fetter Weiden mit artgerechter Tierhaltung ist es ein niederschmetterndes Beispiel für artfremden Massentourismus. Dort tummelt sich der Ostsee -Urlauber, angelockt von der Verheißung: „Freizeit, Familie und Animation“. Nicht nur den qualifizierten Facharbeiter mit Frau und Kleinkind trifft man dort an, sondern auch den Angestellten mit Aufstiegschancen. Ein nicht unerheblicher Teil der Population besteht aus Rehabilitanten, die in der Ostseeklinik ihre Leiden auskurieren. Musikfest auf dem Lande, „Damper Klangwolke“ hieß das nicht näher spezifizierte Angebot an die Kurlauber. Gauklerfest im Freien zum Mitmachen, Drehorgel und Luftballons sollten Schwellenängste mindern und den Weg in des Kurhauses Große Wabe ebnen, die ihre großen Stunden mit Dieter Thomas Heck erlebt haben mag.

Vergebens, es half nichts. Natürlich kamen bis zum Podium nur die Lehrer, Buchhändler und Apotheker der nahegelegenen Kleinstädte. Und natürlich so mancher Segler mit Anhang, dem der Sinn nach Höherem steht. Kein Wunder, volkstümliche Ummantelung und musikalischer Inhalt hatten wenig miteinander zu tun. Besser harmonierte da schon das Programm mit der gastronomischen Rahmenhandlung (Champagner, überbackene Zucchini und Kartoffelpuffer mit Lachs). Die Rehabilitanten speisten lieber im Speisesaal, die Urlauber in der Pizzeria und versäumten so die glitzernde Welt der bürgerlichen Musiksalons. Auf dem Podium nämlich präsentierte das Festival jugendliche Meisterschüler bedeutender sowjetischer Klavier-und Geigenlehrer, die ihren unglaublichen Ausbildungsstand mit allerlei technischen Glanzstücken von Liszt bis Skriabin dokumentierten. Es war ein wunderschöner Abend für uns, die wir auch ohne Gauklerfest gekommen wären.

Virtuoses, Provokantes, Abgegrabbeltes und herzlich Geliebtes wurde uns da drei Stunden lang von liebenswürdig bescheidenen Teenies vorgespielt, daß es eine Lust war. Umso schmerzlicher kam das vorprogrammierte Scheitern des ländlichen Musikfestes zu Bewußtsein. Nur eine Zuschauerin hatte, so schien es mir, die Grenzen zwischen Draußen und Drinnen überschritten: Ihr unbekümmertes, begeistertes Klatschen nach jedem Satz einer Brahms-Violinsonate verriet sie. „Dumme Kuh“ wurde ihr von den Wissenden entgegengeschleudert. Das brachte sie zur Ordnung.

Die sonntägliche Abschlußveranstaltung jedoch läßt jegliches Gemecker verstummen. In Lübecks ehrwürdiger, geschichtsträchtiger und vom Kriege gezeichneter Marienkirche erklang das staunenswerte Requiem von Hector Berlioz. Kein Star am Dirigentenpulte, sondern der dem heimischen NDR-Sinfonieorchester verbundene Rafael Frühbeck de Burgos lenken ab vom Gespielten und vom Spielort. Berlioz‘ Requiem könnte die Grundidee für ein Musikfest abgeben. Es steht mitten im Thema. Musik für jedermann allerdings bietet es nicht. Dem Ohrenschmalz zu schmeicheln, lehnte der Meister stets entrüstet ab. Er wollte erzittern und erbeben machen und spielte seiner Nation in deprimierenden Zeiten ein anderes Lied außerhalb der Konzertsäle vor: das der französischen Revolution. Musik als intensive und subjektive Auseinandersetzug mit der Gesellschaft, Musik zwischen Opposition, Affirmation und Flucht, Musik, die sich selbstgenügsam bescheidet, und solche, die die Grenzen des Musentempels sprengen will, all dies findet man in Frantzens Festival. Man findet es ungeordnet, überlagert von Verpackung wie im shopping -center. Er wird wohl rastlos so weitermachen und das ist auch gut so. Schließlich kann man auf so bewährte Institutionen wie Warenhäuser auch schlecht verzichten.

Mario Nitsche