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Massenflucht vor Iraks Giftgas

Mindestens 30.000 Kurden sind bereits vor den irakischen Giftgaseinsätzen in die Türkei geflohen  ■  Von Ö.Erzeren & A.Zumach

Istanbul/Genf (taz) - Zwischen 30.000 und 50.000 Menschen sind auf der Flucht vor Giftgasangriffen der irakischen Armee in die Türkei geflohen. Die Flüchtlinge, darunter auch viele Frauen und Kinder, sammeln sich in den türkischen Städten Uludere und Cukarca nahe der Provinzhauptstadt Hakkari. Auch mehrere Tausend bewaffnete Peschmergas der Guerillagruppe Barzani haben die irakisch-türkische Grenze passieren können. In einer provisorischen Gesundheitsstation in Cukuroa werden die Verwundeten behandelt.

Angesichts des Massenzustroms deutet sich bei den türkischen Behörden, die die Flüchtlinge bisher in den Irak zurückschickten, nun ein Meinungsumschwung an. Der türkische Ministerpräsident Özal sprach erstmals in Zusammenhang mit den kurdischen Flüchtlingen von „menschlichen Problemen“. „Wir müssen eine Lösung finden. Den Alten, Frauen und Kindern können wir die Grenze öffnen.“ Der Sonderbotschafter der Türkei, Nüzhet, hat dem Irak eine Nachricht überbracht. Auch der nationale Sicherheitsrat in der Türkei wird sich mit der Frage der kurdischen Flüchtlinge befassen. Sicher ist, daß die Türkei eine Verfolgung der Flüchtlinge auf türkischem Gebiet - Wunschvorstellung des Saddam-Regimes nicht billigen wird. Fortsetzung auf Seite 6

Korrespondenten aus der Region berichten, daß die irakische Luftwaffe unmittelbar an der Grenze zur Türkei Bomben auf die flüchtende Zivilbevölkerung wirft. Ein Ende des Flüchtlingsstroms sei nicht absehbar.Um einer drohenden Hungerkatastrophe unter den Flüchtlingen vorzubeugen, wurden bislang 100 Tonnen Mehl und zwei Tonnen Zucker aus Hakkari in die Grenzregion verschickt. Rund 60.000 irakische Soldaten seien mit Panzern und Unterstützung von Flugzeugen und Kampfhubschraubern in das von den Kurden gehaltene Gebiet im Norden Iraks eingefallen. Ein kurdischer Sprecher berichtete, die irakischen Soldaten hätten ganze Dörfer niedergebrannt, töteten wahllos Menschen und hinterließen ein Blutbad. Kurdische Guerillas hätten eine irakische Brigade völlig aufgerieben und dabei mindestens 400 Mann getötet. Erste Berichte hatten von 54 getöteten kurdischen Kämpfern und über 100 Zivilisten gesprochen. An den Kämpfen, die sich auf die Bezirke Erbil, Mossul, Sacho und Dahok konzentrierten, sollen auch Eliteeinheiten der irakischen Präsidentengarde teilnehmen. Trotz der zahlreichen Berichte vom Einsatz chemischer Waffen gegen die kurdische Minderheit, ist UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar nicht bereit, dieses Thema auf die Tagesordnung der Genfer Friedensverhandlungen zu setzen. Diese seien „bereits kompliziert genug“ erklärte er gestern gegenüber Journalisten in Genf.

Sein Sprecher Guiliani behauptete gegenüber der taz, es läge dem Generalsekretär „kein Verlangen vor, sich mit diesem Thema zu beschäftigen“. Auch habe er für irakische Chemiewaffeneinsätze „keine Bestätigung aus unabhängigen Quellen“.Diese Auskünfte sind jedoch eine - wenn auch formal korrekte - Ausflucht. An den UNO-Generalsekretär und den Sicherheitsrat können direkt nur Staaten ein Anliegen vorbringen. Kurdistan ist aber kein Staat. Deswegen sind die zahlreichen Briefe sämtlicher kurdischer Parteien Irans und Iraks mit der dringenden Bitte, sich der Angelegeheit anzunehmen, offiziell nicht existent. UNO-Beobachter, die als „unabhängige Quellen“ genügen können, werden schon seit Monaten von der irakischen Regierung nicht in das Land gelassen. Vertreter/innen des internationalen Roten Kreuzes, des Hochkommissariats für Flüchtlinge oder privater Hilforganisationen, die als Zeugen für das Massaker an den Kurden dienen könnten, dürfen ebenfalls derzeit nicht in den Irak einreisen.

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