START-Poker mit ABM-Joker

Supermächte beschuldigen sich in Genf gegenseitig der Verletzung des ABM-Vertrages / UdSSR lehnt Abbau einer Radaranlage als Bedingung für START-Vertrag ab / Bedingung kam für Moskau überraschend  ■  Aus Genf Andreas Zumach

In den Genfer Abrüstungsverhandlungen werfen sich jetzt die Vereinigten Staaten und die UdSSR gegenseitig die Verletzung des ABM-Vertrages von 1972 vor. Gestern hat die UdSSR den Abbau den Radaranlagen in Krasnoyarsk abgelehnt, den die USA am Mittwoch zur Bedingung des Abschlusses des Vertrages über die 50prozentige Reduzierung der strategischen Atomwaffen (START) gemacht hatte. Die USA warfen den Sowjets vor, mit der Anlage in Krasnoyarsk den Raketenabwehrvertrag (ABM) zu verletzen. Die UdSSR ihrerseits beschuldigt jetzt zum ersten Mal öffentlich die Reagan-Administration der Verletzung des ABM-Vertrages. Dennoch will sie vorläufig in Genf weiter über einen START-Vertrag verhandeln. Moskaus Chefbeauftragter für Abrüstungsfragen, Viktor Karpow erklärte am Donnerstagabend in Genf, die UdSSR sei bereit, die Radaranlage zur „Beobachtung von Weltraumsatelliten“ „als Geste guten Willens“ abzubauen, nachdem sich die USA auf die Einhaltung des ABM-Vertrages für weitere neun bis zehn Jahre verpflichtet habe. Karpov forderte Washington auf, sowjetische Inspektionen der Frühwarnanlagen in Thule (Grönland) und Fylingdales Moore (Großbritannien) sowie der Raketenabschußanlage in Sheyma zuzulassen. Diese Anlagen stellten „eine Verletzung des ABM-Vertrages dar“. Gegenüber der taz räumte Karpov ein, daß die UdSSR von dem Vorgehen der Reagan-Administration „überrascht worden“ sei. Aber immerhin habe Washington nun die „Verknüpfung zwischen START -Vertrag und ABM-Vertrag anerkannt - wenn auch auf eine merkwürdige Weise“. Der sowjetische Abrüstungsexperte bestritt, daß die Anlage in Krasnoyarsk lediglich ein Faustpfand im Verhandlungspoker mit den USA und ansonsten von geringer Bedeutung sei.

Alle bislang verfügbaren Informationen sprechen dafür, daß die Radaranlage in Krasnoyarsk keine Verletzung des ABM -Vertrages darstellt.

„Die Anlage, die wir sahen, entspricht nicht den Standards für eine Raketenabwehreinrichtung. Ihre Konstruktionsqualität liegt unterhalb der für Sozialwohnungsbauten in den USA“, heißt es in einem Bericht von neun Mitgliedern des US-Kongresses, die unter Führung des Vorsitzenden im Streitkräfteausschuß des Abgeordnetenhauses, Les Aspin, die Anlage Krasnoyarsk genau inspizierten. Die Kongreßmitglieder konnten - so ihr Report

-völlig ungehindert und zum Teil ohne sowjetische Begleitung sämtliche Gebäude und Räume der Anlage betreten, über 1.000 Fotos schießen, sowie zwei Videobänder und ein Tonband aufnehmen. Fazit des Berichtes: Bei dem Radar in Krasnoyarsk handelt es sich keinesfalls um eine Anlage mit Fähigkeiten für den Raketenabwehrkampf, wie dies die Reagan -Administration behauptet. Denn die Gebäude sind weder gehärtet gegen Raketenangriffe noch gegen elektromagnetische Impulse. Ohne letztliche Gewißheit über den Zweck der Krasnoyarsk-Anlage zu haben, neigen die US-Kongreßmitglieder in ihrem Bericht daher der sowjetischen Darstellung zu, daß es sich um eine Einrichtung zum Aufspüren gegnerischer Weltraumsatelliten handelt. Diese Einrichtung aber erlaubt ABM-Vertrag in unbegrenzter Anzahl und ohne geographische Einschränkungen. Auf jeden Fall - so die US-Parlamentarier ist die noch nicht fertiggestellte Anlage „erst in mehreren Jahren operationsfähig“.

Doch die Reagan-Administration blieb bei ihrer Behauptung, die UdSSR, verstoße mit dem Bau von Krasnoyarsk gegen den ABM-Vertrag. Dieser gesteht in seiner verschärften Fassung von 1974 beiden Seiten jeweils nur eine solche Anlage zu. Die UdSSR aber verfügt bereits in der Nähe von Moskau über eine Raketenabwehranlage.

Die Einstufung der Anlage in Krasnoyarsk als „materiellen Bruch“ des ABM-Vertrages ist neu und nach den Ausführungsbestimmungen des Abkommens der erste Schritt auf dem Weg zu seiner einseitigen Aufkündigung. Mit der Entscheidung der Regierung Reagan, ihrerseits zum ersten Mal START- und ABM-Vertrag miteinander zu verknüpfen, indem sie den Abbau der Anlage in Krasnoyarsk zur Vorbedingung für einen START-Vertrag machen, versuchen die Amerikaner, den Sowjets die Schuld für ein eventuelles Scheitern der Genfer Verhandlungen zuzuschieben. Das zielt auf das öffentliche Image der UdSSR, die derzeit als die interessiertere Seite an der Bewahrung rüstungskontrollpolitischer Verträge und dem Abschluß neuer Abrüstungsvereinbarungen gilt.