: Hartungs Einäugigkeit-betr.: "Mechtersheimers Zweideutigkeiten", taz vom 22.8.88
Betr.: „Mechtersheimers Zweideutigkeiten“, taz vom 22.8.88
(...) Statt argumentativ zu widerlegen, zieht Hartung ein uraltes Mittelchen aus der schwarzen Trickkiste: Den Gegner in einem Atemzug mit irgendeinem Gott-sei-bei-uns zu nennen und ihn damit zu erledigen. Man behaupte nur dreist, Mechtersheimer sage und wolle dasselbe wie der NATO-Freund Dregger - und schon hat man „bewiesen“, daß Mechtersheimer als „grüner Deutschnationaler“ zur Stahlhelm-Fraktion gehört. Und wenn Dregger sich dagegen ausspricht, daß die Amis unsere Überväter sind, dann fordert der gute linke Bundi, daß die Amerikaner unsere Überväter sind und bleiben. (...)
Die heute lebenden Deutschen haben die Verpflichtung, neue „Kristallnächte“ und ein neues Auschwitz zu verhindern, weder einen Atomfaschismus noch einen Atomkrieg zuzulassen. Gerade deshalb braucht dieses Land und braucht eine wirkliche Alternativbewegung ein neues Denken und eine neue Politik, in der Friedfertigkeit, radikale Demokratisierung, Blocküberwindung und nationale Selbstbestimmung zu einer historisch wirksamen Einheit verbunden werden. Ein sicherer Frieden ist undenkbar in einem zwischen den Blöcken quer durch Deutschland geteilten Europa. Wer den Teufel (bundes)deutschen Großmachtstrebens mit dem Beelzebub des abgemilderten Besatzungszustandes austreiben will, der wird zum nützlichen Idioten der Kriegsplaner.
Der Faschismus mußte militärisch besiegt und von außen her beseitigt werden, weil alle Versuche, ihn durch eine Volkserhebung oder einen Staatsstreich zu beseitigen, im Ansatz scheiterten. Einige Jahre Besatzung waren unvermeidlich. Aber wer nach 1949 und sogar noch 1988 Besatzungstruppen, Souveränitätsverzichte, Interventionsrechte usw. bejaht, der erklärt seinem eigenen Volk den Krieg. Er steht im übrigen in diametralem Gegensatz zur gesamten deutschen Linken der Nachkriegszeit (und auch zur sowjetischen Haltung, wie sie in den Friedensvertragsentwürfen 1952, 1954 und 1959 und in den neuesten Vorschlägen Gorbatschows deutlich wird).
Es ist absurd, den heutigen Deutschen das Recht auf Selbstbestimmung, auf uneingeschränkte Souveränität der beiden deutschen Staaten und des deutschen Volkes abzusprechen, einen (neo)kolonialistischen Status für die BRD zu fordern und gleichzeitig über Demokratiedefizite zu klagen oder die Grünen als demokratische Partei unterstützen zu wollen. Noch absurder ist es, wenn ehemalige Radikale um das goldene Mastkalb des bundesdeutschen Grundgesetzes tanzen („unsere Verfassung“, „Verfassungskonsenz“), also um jenes zeitbedingte und historisch überholte Papier, das erstens nie eine Verfassung war und sein wollte, zweitens nie dem Volk zur Entscheidung vorgelegt wurde, sondern als juristischer Hebel zur Spaltung Deutschlands und zur Verschärfung des Kalten Krieges von den Westmächten ihren Bonner Filialleitern in die Feder diktiert wurde und, das drittens seit 20 Jahren die antidemokratischen Notstandsgesetze einschließt.
Es fällt schwer, sich in den irrationalen Pro-Amerikanismus und den grenzenlosen Selbsthaß des Affekttäters Hartung hineinzuversetzen, der der 68er-Bewegung die „Verachtung allen Nationalen“ (?) zuschreibt. Zur Gedächtnisauffrischung: Haben wir SDSler damals die kubanische Revolution verachtet mit ihrem „Patria o muerte“ („das Vaterland oder den Tod“), haben wir die vietnamesischen sozialrevolutionären Patrioten („Patriotische Front“) verachtet oder Rudi Dutschke, den Protagonisten eines anderen Sozialismus in einem anderen, neu vereinigten Deutschland? Nein, die meisten 68er wußten noch, daß es ohne revolutionären Patriotismus nur den Pseudo -Internationalismus der leeren Phrase gibt, daß nur derjenige für eine bessere und befreite Welt kämpft, der im eigenen Land mit den Menschen seines eigenen Volkes Selbstbestimmung und Frieden durchsetzt.
Rolf Stolz, Köln 91
Bemerkenswert offen brachte A. Mechtersheimer im taz -Interview seine Vorschläge zur Programmgestaltung der deutschen Partei deutscher Interessen aufs Trapez. Demnach heißt „deutsche Singularität“ außergewöhnlich lange „Fremdbesatzung“ statt Auschwitz. Demnach heißt „gesellschaftlicher Fortschritt“ das Kapitel Faschismus mit Hilfe der Friedensbewegung zu Ende bringen. Demnach eignet sich der Begriff „Selbstbestimmung“ als Hebel zur Durchsetzung eines „offenen nationalen Verständnisses“, welches der einzigartigen Tatsache der nationalen Spaltung ein Ende bereiten solle. Dazu bedarf es zweier wirklich imponierender Institutionen: Der Bundeswehr und der Nationalen „Volks„armee der DDR, deren einziger Zweck fortan nur noch in der Abwehr von irakischen Giftgasangriffen bestehen könnte, wie Mechtersheimer ausführt.
Und K. Hartung? Er attestiert auf derselben taz-Seite der NATO-Partei SPD und mit Abstrichen auch Mechtersheimer, eine Stärkung des Verfassungskonsenses „eingeschränkte Souveränität“, der bei deutschen Militärs „eine latente Identitätskrise“ hervorgerufen habe. Da stellt sich doch deutlich die Frage, an welchem Wesen wird die Welt genesen, wie schaffen „wir“ eine neue Friedensordnung und mit dieser ein grüngroßdeutsches Vaterland? In der Tat: Äußerst spannende Themen für die beiden Verteidigungsminister und den Frontkämpferflügel der grünnationalen Partei.
S. Glienicke, Göttingen
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