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90.000 Serben demonstrierten gegen Belgrad

■ Größte Massenkundgebung in Jugoslawien seit dem Krieg / Proteste gegen „Psychoterror“ und „Einschüchterung“ durch andere Volksgruppen / Redner fordern zur Gründung von Bürgerwehren auf / Sozialistische Gruppierung tritt trotz Verbots als Veranstalter auf

Smederewo (taz/dpa) - „Gebt uns Waffen“, brüllte die Menge, „laßt uns Bürgerwehren bilden!“ 70.000 Serben waren am Samstag in die südjugoslawische Kleinstadt Smederevo gepilgert, um ihrem Unmut über die staatliche Nationalitätenpolitik Luft zu verschaffen.

Es war die größte Demonstration, die seit Kriegsende in Jugoslawien stattfand - abgesehen von 1.-Mai-Aufmärschen in den ersten Nachkriegsjahren. Anschließend demonstrierten 20.000 Serben in der nahegelegenen Stadt Kovin. Aus allen Teilen des Vielvölkerstaates kamen sie angereist, um aller Welt zu zeigen, daß sie, die Serben, das unterdrückteste Volk auf dem Balkan seien. Überall außerhalb ihrer Republik, wo sie verstreut leben, in der ungarisch besiedelten Wojvodina ebenso wie im moslemischen Bosnien und vor allem im mehrheitlich albanisch bewohnten Kosovo stehen Psychoterror und Einschüchterung an der Tagesordnung. Serbischen Bauern vergiftete man Brunnen und massakrierte ihnen das Vieh. Bäuerinnen würden gar aus „politischen Gründen“ vergewaltigt.

Es helfe nichts anderes, als selbst zur Waffe zu greifen, wenn der Staat tatenlos zusehe, erklärten Redner auf der Veranstaltung. So konnte man sie gestern über Radio Ljubljana vernehmen, während Radio Belgrad nur vom „friedlichen Verlauf der berechtigten Demonstration“ sprach.

Der Konflikt ist nicht neu, doch trat er noch nie mit solcher Militanz zutage. Hintergrund der seit Wochen veranstalteten Massenproteste ist das Bemühen Serbiens, mit einer Verfassungsänderung mehr Befugnisse in den Provinzen Kosovo und Wojvodina zu erhalten. Die Provinzen mit albanischer Mehrheit beziehungsweise ungarischer Minderheit gehören zur Republik Serbien und haben sich seit der Verfassung von 1974 zu selbständigen Landesteilen entwickelt. Die Politiker der beiden Provinzen haben sich gegen die serbischen Wünsche ausgesprochen. Da für eine Verfassungsänderung die Zustimmung der Provinzen notwendig ist, soll durch die Demonstrationen Druck auf die politischen Spitzen der Provinzen ausgeübt werden.

„Was einem außenstehenden Beobachter als natürlich und demokratisch gilt - daß alle Völker innerhalb einer Vielvölkergemeinschaft gleichberechtigt lebten, war den Serben stets ein Dorn im Auge“, schrieb die slowenische Wochenzeitschrift 'Mladina‘ vor kurzem in aller Offenheit und handelte sich deshalb von der serbischen Parteizentrale in Belgrad den Vorwurf einer „konterrevolutionären Berichterstattung“ ein. Im Gegensatz zu früheren Massenprotesten war in Smederevo und in Crvenka erstmals die Massenorganisation „Sozialistische Allianz“ als Veranstalter aufgetreten. Damit setzten sich die Organisatoren über einen Beschluß des Parteipräsidiums hinweg, der ein Ende der Demonstrationen gefordert hat. Auch aus dem Kosovo und aus der Republik Montenegro hatten sich zahlreiche Serben an den Demonstrationen des Wochenendes beteiligt. Firmen und Privatleute hatten die Angereisten mit belegten Broten, Getränken und Obst verpflegt.

r.ho.

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