: Du bist der Herr
■ „Gemeinde Gottes“ startete ihre Mission mit einem Gottesdienst in Berlin
„Darf ich Sie einladen?“ Eine Dame im Sommermantel mit hochtupiertem Haar stürzt auf mich zu und drückt mir ein Zettelchen in die Hand. Auf der Rückseite der Hinweis: Eröffnugsgottesdienst der „Gemeinde Gottes Berlin“ in der HdK.
Diese Religionsgemeinschaft ist eine Missionsneugründung der „Gemeinde Gottes e.V.“ Sie existiert in Deutschland seit 1936 mit Sitz in Urbach/Württemberg. Gegründet wurde sie 1886 in den USA als „Church of God“. Weltweit soll die älteste amerikanische Pfingstgemeinde 1,5 Millionen Mitglieder haben. In der BRD konnte sie nur 1.500 Schäfchen ins Trockene bringen. Nun soll die Herde vergrößert werden und „den unerreichten Millionen der Stadt Berlin die Liebe Gottes und sein Angebot“ nahegebracht werden. So steht es im Hochglanzblatt „Sag ja zu Jesus“.
Als berlintypisch müssen auf den Fotos Punks herhalten. Nicht ohne Grund. Denn im eigenen Nachrichtenblättchen 'contact‘ hat „Pfingstpfarrer“ Johannes W. Matutis erkannt, „daß der Griff zum Rauschgift nichts anderes ist, als ein Akt der Verzweiflung, um die tiefverborgene Sehnsucht nach Gott zu decken und zu befriedigen“. Das möchte Matutis durch City-Gottesdienste an jedem Sonntag ändern. Doch weder Punks noch Drogensüchtige streben auf das Portal der HdK zu, sondern ein Bus mit Esslinger Kennzeichen spuckt rund 50 Leute in Dirndl und Spitzenblusen aus. Drei weitere Busse folgen. Nach Informationen des „Beauftragten für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evg. Kirche“, Gandow, sollen Westdeutsche aus Schorndorf, Stuttgart und Heilbronn zu den ersten Gottesdiensten anreisen, um später nach Berlin umzusiedeln.
Hier sollen sie die neue Gemeinde unter dem Motto „Aktion Jericho“ mitgründen. Eine junge Frau setzt sich neben mich vor die HdK und erzählt ihren Leidensweg. „Ich hatte Trombose im Bein. Es bestand keine Aussicht auf Heilung. Da hat Jesus mich mit einer Freundin zusammengeführt. Sie betete für mich. Ich habe den Gummistrumpf ausgezogen, die Tabletten weggeworfen und wurde gesund. Jesus tut heute noch Wunder.“ Solche Geschichten über Wunderheilungen sind bei den Mitgliedern der „Gemeinde Gottes“ keine Seltenheit und nachzulesen in der eigenen Zeitschrift 'Charisma‘. Die ganze Nacht war die junge Frau im Bus unterwegs, nur um Pfarrer Matutis predigen zu hören. Auf eigene Kosten, für 160 Mark. Was sie vom Gottesdienst erwartet? „Ich erwarte den Herrn.“
Blasmusik trompetet mir in der HdK aus dem halbbesetzten Konzertsaal entgegen. Pfarrer Matutis tritt im hellen Anzug und mit dunklem Schnautzer ans Mikrophon. Er weckt das Vertrauen eines Heiratsschwindlers und spricht so schnell, daß er ebensogut fliegender Händler für Mulinex -Allesschneider in der Fußgängerzone sein könnte. „Berlin gehört nicht den Amis, Franzosen oder Engländern, die Stadt gehört Jesus“, feuert er seine „Brüder und Schwestern“ aus der tiefsten Provinz an. „Amen“, raunt die Menge und erhebt sich, um zu singen. „Du bist Herr“, jubilieren sie. „Halleluja.“ Arme werden ausgebreitet, Hände recken sich zur Decke, Augen sind geschlossen, und die Körper wiegen im Takt zur Kapelle.
Pfarrer Matutis hat im Namen Jesus Unglaubliches vor. „Wie die Kinder Israels die Mauer von Jericho eingerissen haben, wird auch hier die Mauer fallen“, phrophezeit er. „Ich möchte viele Menschen taufen in der Spree und in der Havel.“ Nach Berlin kam Matutis aufgrund einer Vision, die er gemeinsam mit seiner Frau bei einem Besuch erlebte. „So suchten wir an jenem Novembernachmittag Gottes Führung dort vor der Gedächtniskirche, deren Kirchturm sich als Ruine wie ein Zeigefinger zu Gott im Himmel emporstreckt, als wenn er sagen würde: 'Herr erbarm dich unser...'“. Ein halbes Jahr später zog Matutis von Heilbronn fort. Am Ende des Eröffnungsgottesdienstes fordert Matutis seine Gefolgschaft auf, mit ihm zum Breitscheidplatz zu ziehen. Mit Broschüren und Zeitschriften bepackt und der Blaskapelle vorneweg geht's los. Es ist Samstag abend, halb zehn. In der Berliner Innenstadt tobt der Bär. Kids führen Akrobatik auf BTX -Rädern vor, besoffene Reisegruppen haken sich vergnügungssüchtig unter und schlingern achtlos an der Blaskapelle vorbei, andere wiederum starren verständnislos auf die Frau im Sommermantel mit dem hochtupierten Haar, wie sie verloren ihre Zettelchen fest in der Hand hält
Caroline Schmidt-Gross
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