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Flucht-Boom über die Mauer

■ Wieder zwei junge DDR-Bürger unbehelligt über die Grenzanlagen geflüchtet / Über die Gründe der Fluchtserie vom Wochenende gibt es nur Spekulationen

Die DDR muß seit gestern früh um 3.20 Uhr auf zwei weitere Mitbürger verzichten. Um diese Zeit überwanden zwei Metallarbeiter im Alter von 18 und 21 Jahren die Grenzanlagen zwischen Buckow und der Ost-Berliner Gartenkolonie Groß-Ziethen. Obwohl die Flüchtenden die Alarmleuchten auslösten, konnten sie ungehindert von den Grenzorganen vom demokratischen in den freien Teil Berlins gelangen, wo sie sich bei der Polizei meldeten.

Dieser Vorfall reiht sich ein in eine ganze Kette von Fluchtversuchen nach West-Berlin in den vergangenen Tagen und Wochen, die in der Regel nicht von den DDR-Grenzern verhindert wurden. So war in der Nacht zum Sonntag bereits zum dritten Mal innerhalb 14 Tagen zwei DDR-Bürgern schwimmend die Flucht gelungen (die taz berichtete). Über die Gründe für die Häufung der Fluchtversuche gibt es ebensowenig eine einheitliche Erklärung wie über das relativ zurückhaltende Verhalten der DDR-Grenztruppen, die drei Fluchtversuche mit Gewalt vereitelten, aber nur in einem Fall, gegen einen „Sperrbrecher“, von der Schußwaffe Gebrauch machten, ohne dabei den Flüchtenden zu verletzen. Die Senatskanzlei, die diese „erschreckenden Praktiken“ verurteilte, will sich einer Bewertung des Fluchtbooms enthalten. Solche Phasen habe es „immer mal wieder gegeben“, meint Sprecher Haetzel. Eine etwaige Lockerung des Schießbefehls anläßlich der Leipziger Messe, bei der Honecker vor der Weltöffentlichkeit um verbesserte politische Beziehungen wirbt, will Haetzel nicht als möglichen Grund für die Fluchthäufung gelten lassen. Dafür gebe es keine Hinweise. In der Vergangenheit war jedoch häufiger darauf hingewiesen worden, daß die DDR zu bestimmten Anlässen wie etwa zum Honecker-Besuch den Schießbefehl abschwächt oder aufhebt.

Der Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft 13.August“, Hildebrandt, macht das Wetter und die Medien für den derzeitigen Fluchtboom mitverantwortlich. Im Sommer liege die Zahl der Fluchtversuche generell höher, so die Erfahrung Hildebrandts. Zudem würden Berichte der Medien über gelungene Fluchtversuche in der DDR die meist jüngeren Fluchtwilligen ermutigen, ebenfalls zu versuchen, die Mauer zu überwinden.

tr

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