: K A R L K I T C H E N
■ P A R A D I E S F Ü R A R M E
Die Metamorphose Berlins von der schmutzigen, schlechtgeleiteten Stadt der Nachkriegsjahre zu der blitzsauberen und brillant erleuchteten Hauptstadt von heutzutage ist eins der erstaunlichsten „Comebacks“ moderner Zeiten. Es ist keine Übertreibung, festzustellen, daß Berlin heutzutage viel freudiger, schöner und sehenswerter zu besuchen ist, oder darin zu leben, als sogar in den Höhepunkten seiner Prosperität der Vorkriegstage.
Die allgemeinen Verbesserungen, die durchgeführt wurden, übersteigen alles, was in dieser Hinsicht in irgendeiner der Großstädte der Welt getan wurde. Die sozialistische Stadtregierung hat so große Summen für öffentliche Parks und Spielplätze, Krankenhäuser und Institute für hilflose und gebrechliche Bürger ausgegeben, daß die Stadt sozusagen in den Händen eines Geschäftsaufsichtsführenden ist. Das ist die dunkle Seite zu dieser Orgie von Geldausgeben. Es ist keine Frage, daß Berlin mehr getan hat, das Leben für die große Masse der Bevölkerung angenehmer zu machen, als irgendeine andere Stadt.
Berlin ist natürlich am schönsten im Mittsommer. Zu dieser Zeit sind nicht nur seine Parks und baumbestandenen Straßen am lieblichsten, sondern die Seen und Flüsse rund um die Stadt setzen auch den ärmsten Teil seiner Bevölkerung in die Lage, ein Leben im Freien zu führen, das selbst bei Leuten unter erheblich besseren Lebensbedingungen in Amerika Neid erwecken kann. Trotz der langen wirtschaftlichen Depression und der großen Arbeitslosigkeit gibt es keine „Brotschlangen“ in Berlin. Überhaupt ist Armut nicht in dem Maße zu beobachten wie in London oder New York. In der Tat, Berlin kommt dem Paradies des armen Mannes so nahe, wie das heutzutage unter den augenblicklichen Wirtschaftsverhältnissen möglich ist.
Die allgemeine Ordnung und Sauberkeit macht wahrscheinlich den größten Eindruck auf den amerikanischen Besucher Berlins. Sein Hin und Her, sein Verkehr, die Menschenmenge auf den Hauptstraßen und sein Anblick zur Nachtzeit ist typischer für amerikanische als für deutsche Städte. Trotzdem ist Berlin in keiner Weise amerikanisiert. Der Kurfürstendamm, die Straße, die sich am meisten seit dem Kriege verändert hat – er ist der Mittelpunkt des Theater und Restaurations-Lebens der Stadt – hat seinen Charakter trotz der neuen Gebäude erhalten, die auf ihm und in seiner nächsten Nähe erbaut worden sind.
Auszug aus „Deutschland – 12 Jahre danach“. Dieser Artikel des amerikanischen Journalisten Karl K.Kitchen erschien am 23.Oktober 1930 in der 'New York Sun'.
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