: Der Dreckkastenfussler
■ Aus dem abfalligen Leben des Jürgen O. Olbrich
Gertrud Salm mit Caroline Sixel
Jürgen Olbrich, Jahrgang '55, wohnhaft in Kassel, fusselt gerne im Abfall, vorzugsweise in Papierkörben. Das bestätigt ihm Professor Heiner Georgsdorf, ebenfalls Kassel: „Wie mein Opa, der keinen rostigen Nagel auf der Straße liegen lassen konnte, hebt Olbrich alles wieder auf, was unsereins wegwirft ... kein Papierkorb, an dem er vorbeigehen kann, kein Abfalleimer, der nicht möglicherweise ...“ Eng mit dem Fusseln ist bei ihm das Sammeln verbunden. Jürgen Olbrich sammelt z.B. Kopierreste, Photos jeglicher Art, Kaffeefilter, Altpapier und was sich sonst noch findet. Er hat die Schlürflust des Knaben nach Haben aufs schönste sublimiert; er macht was draus. Kunst nämlich. In Tüten, per Buch, als Postkarte oder sonstwie verschickt er den Schrott, und der sieht im bedeutungsvolleren Environment auch sehr edel und sensibel aus. So wird die spezielle Inbesitznahme von dem, was alle nicht wollen (Abfall) - im Gegensatz zu dem, was fast alle nicht haben (Geld und Gut) - zum höheren Ideal. Aber nur kein Neid.
Jürgen Olbrich tut was zur Verschönerung des Alltags, er ist sozusagen der Alltagsknacker. Freitags z.B., wenn Arbeiter und Angestellte ins Wochenendvergnügen aufbrechen, fährt er mit seinen internationalen Freunden zu verlassenen Baustellen, und bei Kaffee und Kuchen bauen sie aus den Hinterlassenschaften Skulpturen. Die bleiben lange stehen, sagt er. Das hängt damit zusammen, „daß die Bauarbeiter meinen, da hat sich der Bauherr mit seinen Kindern vergnügt, das lassen wir mal besser stehen, und der Bauherr meint, die Bauarbeiter haben sich was einfallen lassen, das lassen wir mal besser stehen“.
Er scheint auch ein Wunder der Vernetzung zu sein. Sämtliche Vernetzungsbesessenen - von der Internationalen bis zu Rolf Schwendter - können da was lernen. Er lädt ein und die Leute kommen. Das hat seinen tieferen Grund in der periodisch in Kassel auftauchenden documenta. Während andere alle vier Jahre längst vergessene Freunde und entfernte Verwandte beherbergen, steigen bei ihm die Künstler mit Knetemangel ab. Sie kommen auch zwischen den Jahren. Als er noch das Haus Nr.34 in den Kunoldstraße gemietet hatte, lud er jeden Monat einen Künstler ein, der dort machen konnte, was er wollte. Da war eine Frau, die hatte es mit Silberstaub und belegte das ganze Haus damit. Der rieselte dann von Türen und Fensterbrettern. Nach ihrer Abreise bekämpfte er die hartnäckigen Folgen mit einem Industriestaubsauger, den er zu Vorführungszwecken kostenlos bei der Herstellerfirma anforderte. Zehn Jahre hat er so in der Kunoldstraße gewohnt. Er ist jetzt umgezogen worden, von einem Häuserspekulanten. Die Folgen sind noch nicht absehbar.
Wer viel einlädt, wird viel eingeladen. Ein einfaches und wahres low-budget-Prinzip. Beispielsweise von der Solidarnosc nach Polen. Mit einer kleinen Tischgalerie circa 500 Kleinkunstwerke von 500 Künstlern in Adremarähmchen - ließ er sich per Zeitungsannonce mieten. Die Galerie frei Haus soll die Angst vor den großen Galerien nehmen. Auf alle Fälle wurde der Kulturträger dabei gut durchgefüttert. Dafür hat er dann in San Francisco beim Inter-Da-Da-Festival die Besucher ernährt. Seine 400-Dollar -Gage setzte er in 80 Menüs um, die vom bring-service der diversen take-out-Läden über die Bühne getragen und dem Publikum auf den Tisch gestellt wurden. Erwartungsgemäß hat er auch in San Francisco Müll gesammelt, bei Leuten geklingelt, ihn zur Aufbewahrung abgegeben und später nicht wieder bekommen. Die meisten wollten ihn behalten.
So geht es weiter. Mit Taucheranzügen in den englischen Schlußverkauf, Rock'n'Roll tanzen auf einem auf Dauer gestellten Photokopierer, schmirgeln am Ammersee (diesmal Türen, um Geld zu verdienen), verstaubtes Konsumgut polieren in Warschau, Haare schneiden in Kassel. Alles, was an- und abfällt, wird photographiert, photokopiert, in Plastik eingeschweißt, vertütet und verschickt. Wenn er behauptet, er schaffe keine bleibenden Werte, so schafft er doch zweierlei: eine ungeheure Flut von Informationen - leider sehr tiefsinnig kommentiert, aber schön verpackt - in die Bevölkerung zurückzuschaufeln und dabei zu überleben.
Wo das Geschäft bleibt, ist ungewiß. Er hat keine Angst vor dem Geld, drum hat er keins. Bleibt die Frage, wie man ohne Geld reist, Post verschickt, Freunde verköstigt?
Genau betrachtet, wirkt das wie eine Kalkulation ins Ungenaue. Jürgen Olbrich arbeitet mit 500 internationalen Künstlern zusammen, überwiegend auf der Ebene des Informationsausstauschs und des Ideentransfers, bis jetzt noch mit so klassizistischen Kommunikationsmitteln wie Post, Telefon und Besuch. Punktuell und rezidivierend kommt es zur Zusammenarbeit, finanziert aus Sondertöpfen zu Gelegenheiten wie den Olympischen Spielen, documenta, Festivals etc. Gibt es Aufträge, werden die Freunde hinzugezogen. Gibt es keine, wird gejobbt.
Anscheinend genügen 500 Personen, um ausreichend Informationen über geplante Aktionen zu erhalten und einen gewissen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Das geht eindeutig über den sonst üblichen semi-familialen Rahmen hinaus. Zusätzlich tauscht er (originale Kunst gegen abgetragene Schuhe, Zeit gegen Material) und bedient sich unterschiedlicher Institutionen, die mit Photokopierern und einem Postweg ausgestattet sind.
Der Kasseler Kunstverein hat keinen Photokopierer, aber Jürgen Olbrich im Vorstand. Diesen Vorstandsposten verdankt er der gescheiterten Unterwanderungsperformance einer studentischen Kunsttruppe mit Namen Visuelle Opposition. Die hatten versucht, den siechen Verein durch große Mengen neuangeworbener Mitglieder zum Rotieren zu bringen und den Vorstand zu übernehmen. Schlußendlich gabs viel Konspiration auf allen Seiten, den Ruf nach Erneuerung und eine Mammutmitgliederversammlung mit Polizeischutz und bodyguards. Die Alteingessenen kürten Jürgen Olbrich zu ihrem jugendlichen Erneuerungskandidaten und der nahm an. Seitdem mag ihn die Kunstszene noch weniger.
Jürgen Olbrichs Produktionen werden wohl nicht im Museum enden. Dazu sind die zu situativisch. Was von dem enormen Verwertungsspektakel - übrigens nicht nur von Schrott, sondern auch von Kunstrichtungen wie der konkreten Poesie übrigbleibt, sind Photos, Wundertüten und eine unendliche Fülle von Geschichten. Sie handeln selten von ihm allein, immer sind Gruppen oder Compagnons im Spiel. Sicher ist, daß keiner sich traut, seine Wiederaufbereitungskunst wegzuschmeißen, es sei denn, er muß zu oft umziehen.
Demnächst wird Jürgen Olbrich zzusammen mit Wolfgang Hainke (Bremen) in Wiesbaden ausstellen. „Talking pictures“ bezeugt die ausdauernde Sammlerleidenschaft von Photographien in allen Lebenslagen (ethnologische Studien über Hochzeit, Baby, Tod etc. im europäischen Einzugsbereich) und die unendlich verdoppelbare Informationsflut in der Biosphäre (auf Mikrofisch von Wolfgang Hainke).
Two image-works „Talking pictures“ vom 9.September bis 16.„Oktober 1988 in Harlekin Art, Wandersmannstraße 39, 6200 Wiesbaden
„Echtzeit“, eine Ausstellung mit „Copy-Art“ im Kasseler Kunstverein unter Beteligung von Jürgen O. Olbrich, Kassel; Cejar, Paris; Ann Noel, England; Emmett Williams, USA u.a. noch bis 25.September im Kasseler Kunstverein
„Schriftbild - Bildschrift“, eine Ausstellung mit typographischen Arbeiten von Wolfgang Hainke, Jürgen O. Olbrich, Franz Mon, Gerlinde Noll, Helga Schröder u.a. im Kunstverein Kreis Gütersloh noch bis 2.Oktober
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