Feine Risse im IG Chemie-Beton

Nicht alle Kritiker hielten sich auf dem IG-Chemie-Gewerkschaftstag bedeckt / Forderung: IG Chemie soll sich nicht als Lobby für die Chemie-Industrie mißbrauchen lassen / Vorsitzender Rappe zeitweise schlechter Laune  ■  Aus Karlsruhe Martin Kempe

Die Friedhofsruhe in der IG Chemie liegt nicht mehr so schwer und bleiern über der zweitgrößten Industriegewerkschaft des DGB wie noch auf dem Berliner Gewerkschaftskongreß vor vier Jahren. Das zeigte sich am zweiten und dritten Tag des IG-Chemie-Gewerkschaftstages in Karlsruhe. Zwar ist ein Kompromiß mit den ausgeschlossenen Boehringer-Vertrauensleuten nach den eindeutigen Stellungnahmen aus der Vorstandsetage völlig undenkbar. Aber immerhin: Unzufriedene wagen wieder, wenn auch vorsichtig, sich zu artikulieren. Der rechtssozialdemokratische Beton zeigt inzwischen feine Risse - nicht bedrohlich für die Herrschaft des unangefochtenen Vorsitzenden Hermann Rappe, aber doch deutlich genug, ihm zeitweise und sichtbar die Laune zu verderben.

„Wie weit würde bei uns ein Oskar Lafontaine toleriert?“, warf ein Delegierter aus Marl in die Debatte und fügte nachdenklich hinzu: „Allein daß ich diese Frage stellen muß, gibt mir zu denken.“ Natürlich sei es „verdammt noch mal“ legitim, die Organisation „umdrehen“ zu wollen, hielt der Bielefelder Delegierte Wolfgang Sommer dem Vorsitzenden Rappe vor, der am Tag zuvor unmißverständlich klargestellt hatte: „Mit mir nicht.“ Und ein anderer Delegierter bemängelte den Versuch, „den Glanz von Hermann Rappe sofort wieder auf Hochglanz zu polieren“, sobald der mal ein bißchen angekratzt sei.

„Schockiert und bestürzt“ äußerte sich ein Teilnehmer über den Umstand, daß der Vorstand vergangene Auseinandersetzungen bis in den Ruhestand hinein mit Sanktionen belegt und einige unliebsame, inzwischen ausgeschiedene Altfunktionäre nicht zum Gewerkschaftstag eingeladen hatte.

Natürlich fühlten sich auch einige Funktionäre der IG Chemie, namentlich der vom Boehringer-Konflikt unmittelbar betroffene Mannheimer Verwaltungsstellenleiter Reiner Sutterer, aufgerufen, der IG-Chemie-Zentrale bei ihrem kompromißlosen Kurs gegen die Dissidenten ihre Ergebenheit zu beteuern. Aber auch dies war offensichtlich eine Reaktion auf das unterschwellige, aber doch weitverbreitete Unbehagen über den Zustand der Organisation.

Unzufriedenheit äußerte sich auch zu den Bereichen Umweltpolitik und Tarifpolitik. „Ich sehe die Gefahr, daß wir uns als Lobby für die Arbeitgeber mißbrauchen lassen“, kommentierte der Delegierte Nikolaus Bernhardt aus Stuttgart eine Vereinbarung der IG Chemie mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) über betrieblichen Umweltschutz.

Der Ludwigshafener Delegierte Rudi Schmid hielt dem Vorsitzenden Rappe vor: „Da werden Umweltschützer härter kritisiert als diejenigen, die für Umweltverschmutzung verantwortlich sind.“ Die IG Chemie müsse sich hüten, „den notwendigen Druck der Öffentlichkeit von unseren Unternehmen wegzunehmen“.

Das „tarifpolitische Jahrhundertwerk“ der IG Chemie, der im letzten Jahr abgeschlossene Entgelttarifvertrag zur Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern, fand nicht die einhellige Zustimmung aller Delegierten. Ein ausländischer Redner kritisierte, daß die große Gruppe der un- und angelernten Arbeiter im Gegensatz zu den Facharbeitern von diesem Vertragswerk nichts gehabt habe.