Eine Woche Bremen für 600 Mark Ost

■ Erste Rostocker Jugendgruppe im Rahmen der Städtepartnerschaft / „Ganz normale Bürger der DDR“ Viel Programm, kaum Freizeit für die 30 FDJ-Mitglieder / Eklat im CDU-Büro

Reisen ins nichtsozialistische Währungsgebiet, kurz NSW -Reisen genannt, sind in der DDR eine begehrte Sache. Zum ersten Mal sind in dieser Woche 30 Rostokker Jugendliche im Rahmen der gerade ein Jahr alten Städtepartnerschaft in Bremen. „Wir haben immer wieder Bürger getroffen, die sich das überhaupt nicht vorstellen konnten, daß wir keine ausgewählten Funktionäre, sondern ganz normale Jugendliche sind“, wunderte sich Harald von Beibom, eines der älteren Delegationsmitglieder, gestern noch immer. Bei einem Empfang im CDU-Büro sei die Rostocker Gruppe von Mitgliedern der JU sogar mit den Worten empfangen worden: „Für Leute von der Stasi seht Ihr aber ganz schön jung aus!“

„Unsere Jugendlichen haben dabei viel gelernt, z.B. wie man in der BRD mit 18 schon so verknöchert sein kann“, lachte der Delegationsleiter und 1. FDJ-Sekretär im Kreis Rostock, Karsten Müller, als er gestern vor der Presse eine erste Bilanz der Reise zog. Ansonsten lobte er jedoch immer wieder die „offene Atmosphäre“

in allen Gesprächen. „Man merkte auch hier und da etwas Herzlichkeit“ freute sich Christa Hamannn, die Wert darauf legt, Rostocker „Stadtrat“ und nicht etwa „Stadträtin“ für Jugendfragen zu sein.

600 Mark Ost mußten die Jugendlichen für ihre einwöchige Reise nach Bremen bezahlen, 95 Mark West gab es dafür als Taschengeld. Unterkunft im Vegesacker Lidice-Haus und ein lükkenloses Programm organisierte Erhard Heintze vom Senator für Jugend. Stadtbesichtigung, Senatsempfang, Gespräche mit Jugendorganisationen und Parteien, Besichtigung von Schulen, Kindergärten, Betrieben und Sozialeinrichtungen lassen kaum Zeit für einen raschen Sprint durchs Kaufhaus, um die Westmark in Mitbringsel umzusetzen.

„Ich hatte so meine Bedenken bei dem Programm“ sprach denn auch Christa Hamann Klartext zwischen den Zeilen. Schließlich hätten die Jugendlichen Urlaub genommen und dafür auch Freizeit erwartet. „Aber wir können das den Bremern nicht verdenken; wir haben es mit ihnen ge

nauso gemacht“, spielte sie auf den Rostock-Besuch einer Bremer Jugend-Delegation im Mai an.

Doch während unter den 30

Bremern damals nur Funktionäre und davon zwei Drittel weit über 30 Jahre alt waren, besteht die Rostocker Gruppe neben fünf Funktionären ausschließlich aus „ganz

normalen Bürgern“, wie Christa Hamann versicherte, nur drei von ihnen über 30 Jahre alt. Reisevoraussetzung war allein die Mitgliedschaft in der FDJ, nicht aber besondere Linientreue. Das zeigte sich auch mehrfach in den Diskussionen. Für oder gegen Atomkraftwerke, für oder gegen autoritären Unterricht, für oder gegen diplomatische Zurückhaltung gegenüber der Diskriminierung im CDU-Büro immer wieder wurde offen auch innerhalb der Rostocker Gruppe gestritten.

Einig waren sich dagegen alle, daß ihre Reise „der Friedenssicherung dient“, daß „Bremen eine sehr schöne Stadt“ ist und daß die Städtepartnerschaft „behutsam weiter aufgebaut werden muß“. Und viel zu kaufen gibts an der Weser. „Mir gehen die Augen über“, gestand ein Rostocker nach dem ersten Tag im bunten Westdeutschland. Und beim Gedanken daran, daß er am Morgen zuvor noch in Rostock gefrühstückt hat und nun zwischen Boutiquen, Puff und selbstverwalteten Kulturzentren im Bremer Ostertor herumläuft: „Ich denk, ich träume“.

Einiges vom westlichen Wirtschaftswunder würde sogar Stadtrat Christa Hamann gerne mit nach Hause an die Warnow nehmen: Die Stadthalle, den Bürgerpark, die Schule am Rübekamp und das Parlament - gemeint war allerdings das Gebäude, nicht sein grün-sozial-christ-freidemokratischer Inhalt.

Dirk Asendorpf