: Jürgen Kremb: Seoul, ein dicker lärmender Frosch
■ Das Land der Morgenstille im vor-olympischen Taumel
Jürgen Kremb SEOUL, EIN DICKER LÄRMENDER
FROSCH
Das Land der Morgenstille im vor-olympischen Taumel
Es ist nicht auszumachen, wo die Stimme herkommt. Die Menschen stehen dicht aneinandergepreßt. Rücken an Rücken, Seite an Seite, die Blicke zu Boden gerichtet. Man wahrt die Privatsphäre, obwohl jeder den Schweiß des anderen spürt. Ich sehe kaum, wer hinter meinem Nebenmann steht, doch da ist sie immer wieder, die Stimme: „Halleluja, Halleluja“, dann ein paar unverständliche Worte in koreanisch, und dann wieder mit Inbrunst: „Halleluja, Jesus Christus.“ Dazwischen die Zug-Ansage. Sie verkündet seit wenigen Tagen in koreanisch und englisch: „Next station is chongno-oh-ga, chongno-oh-ga. You can change...“ Viel Zeit zum Überlegen bleibt nicht, ob „oh“ im Koreanischen denn nun wirklich „fünf“ bedeutet. Und „chongno-oh-ga“ auch wirklich „chongno -5-ga“ ist. Die U-Bahn bremst in Seouls geschäftigem Bahnhof im Zentrum. Die Tür reißt auf. Draußen ist es genauso voll wie drinnen. Hektisches, fast brutales
Tempo
„Auf der Suche nach dem moralischen Weltgesetz begründete der gelehrte chinesische Beamte vor 2500 Jahren eine humanistische Philosophie. In Korea regelt sie wie eine Staatsreligion alle Bereiche des Lebens. Und nur vor diesem Hintergrund ist die rasche wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu verstehen: „Die Macht des Konfuzius“, heißt es in der neuesten Ausgabe eines bekannten deutschen Reiseführers zu Südkorea. Das gilt hier wohl nicht mehr. Denn die fünf konfuzianischen „Kardinaltugenden“ verkünden: „Gegenseitige Liebe, Rechtschaffenheit, Weisheit, Sittlichkeit und Aufrichtigkeit.“ Seoul, Olympia 1988 - „Seoul, Palpal, Oliempike“, wie dieser Tage die koreanischen Radios, Fernseher und Kinoreklamen in fortwährendem Stakkato einhämmern, hat nur noch wenig mit unseren Idealen vom asiatischen Land der Morgenstille, originärer Kultur und Unentdecktheit zu tun - zumindest in der Landeshauptstadt Seoul, wo Ende der kommenden Woche die 24. Olympischen Sommerspiele eröffnet werden.
Mein Nebenmann preßt mir lautlos aber bestimmt seinen Ellenbogen in die Nieren. Er will 'raus aus der Bahn, doch schon strömen Dutzende ohne abzuwarten dagegen. Uniformierte Bahn-Bedienstete schieben nach. Dann rasten die Türen mehrmals zu, bis ja kein Arm oder Bein mehr dazwischen ist. Das „Halleluja, Jesus Christus“ des Missionars hebt wieder an. Nirgendwo ist man vor ihnen sicher in Seoul. Südkorea ist nach Taiwan nicht nur Weltrekordhalter im wirtschaftlichen Wachstum, sondern es hat auch den höchsten Anteil von Mitgliedern irgendwelcher christlicher Sekten. Doch jetzt muß der U-Bahn-Missionar gegen den Zeitungsjungen der 'Dong-A-Ilbo‘, der „Orient-Tageszeitung“, ankämpfen. Ein kleiner Lautsprecher summt die „Lovestory„-Melodie, während er sich durch die Menge wühlt und die neuesten Schlagzeilen herausbrüllt.
„Seoul zur Rush-hour treibt mich zum Wahnsinn“, sagt Kim Kuang-Ki. Er müßte es eigentlich gewohnt sein, das hektische, fast brutale Tempo seiner Heimatstadt. Doch nach nur drei Jahren Studium in Deutschland sagt er: „Ich hatte fast einen Kulturschock, als ich im letzten Monat wieder nach Hause kam.“ Das Wachstumstempo von Südkoreas Hauptstadt ist nur mit einer Kaulquappe zu vergleichen. Da frist etwas Kleines, Häßliches alles um sich herum auf, und heraus kommt doch nur ein dicker, lärmender Frosch.
Das Stadtzentrum Seouls, gerade 50 Kilometer von der scharf bewachten demilitarisierten Zone am 38.Breitengrad entfernt, wurde im Korea-Krieg (1950-53) mehrmals überrannt und völlig dem Erdboden gleichgemacht. Danach war die Stadt nur für eine Bevölkerung von einer Million konzipiert worden. Doch heute wohnt mit zehn Millionen Menschen ein Viertel der Bevölkerung von ganz Südkorea in der Hauptstadt. Täglich kommen Hunderte von Menschen aus den Provinzen hinzu. In der Hoffnung auf Arbeit, ein besseres Leben und eine Hochschulausbildung für ihre Kinder. Schon befürchten Stadtplaner, daß zum Jahr 2000 die 13-Millionen-Grenze überschritten sein wird.
Täglich werden in Seoul 367 neue Autos zugelassen. Schon jetzt sind es mehr als 600.000 Fahrzeuge, darunter 40.000 Taxis und 11.000 röhrende Busse, die miteinander um jeden Millimeter Asphalt kämpfen. Die wichtigsten Behörden, alle Hauptquartiere der großen Konzerne und 40 Prozent aller Betriebe des Landes der Morgenstille haben sich in diesem Stadtmonster am Hanfluß niedergelassen. Mehr als 70 Hochschulen, und damit jede fünfte Südkoreas, ist in Seoul angesiedelt. Gesetz des Ellenbogens
Wie ein Anachronismus aus einem anderen Land thront das historische „Nam-Dae-Mun“, das große Südtor, vom Verkehr umtost, in einem Meer von chrom- und glasglitzernden Hochhäusern. Wenige Meter weiter am Südtormarkt stehen Straßenhändler rhythmisch stampfend und klatschend auf ihren Karren; im selben Takt wie die Schamanen, die ihre Rituale aus vorbuddhistischer Zeit zu wenigen seltenen Anlässen wieder auferstehen lassen. Während die Händler hier getrockneten Tintenfisch, gebrühte Seidenraupen und Billig -Textilien verkaufen, locken in den neuen Appartmentstores daneben Videorekorder, Autotelefone und Spielzeug-Roboter Boten einer neuen Zeit, die in Seoul lange angefangen hat, ohne daß die alte beendet wäre.
„In einer Gesellschaft, wo man sich anschickt, das Pro-Kopf -Einkommen von 3.000 US-Dollar auf 6.000 anzuhieven“, sagt der Schwager von Kuang-Ki, „gilt das Gesetz des Ellbogens, cando, ein nervöses Stoßen und Rempeln.“ Er will uns deshalb das andere Seoul zeigen und hat uns zu sich nach Hause eingeladen. „Eine seltene Ehre“, wie uns Sokran, eine andere Freundin, erklärt. Viele Koreaner trauen sich auch untereinander nicht, ihre noch immer bescheidenen Wohnungen zu zeigen. Denn gerade neun Quadratmeter Wohnraum stehen jedem Seouler im Durchschnitt zur Verfügung.
„Eine Adresse in Seoul zu finden ist ein Kunststück“, sagt unser Gastgeber und hat uns gleich an der U-Bahn abgeholt. In der Tat kennt die moderne Wachstumsmetropole keine Stadtpläne. Keine jedenfalls im westlichen Sinne, mit Straßennamen und Hausnummern. Lediglich die großen Straßen, die erst mit Bulldozern durch die gewachsenen Viertel geschlagen wurden, tragen Straßennamen. Ansonsten ist Seoul in mehr als 400 Stadtviertel, Dongs, eingeteilt, wo jedes Haus eine Nummer trägt, die nur der Briefträger oder der Revierpolizist kennt. Das Haus von Kims Nachbarn trägt die Nummer „400“, während an der weißen Außenwand von Kims Elternhaus die Nummer „476“ klebt. Die Regeln des Konfuzius
Hier draußen, wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, scheinen die traditionellen Regeln der koreanischen Gesellschaft noch immer zu gelten. Unter den geschwungenen Dächern sitzt die Familie tagsüber mit untergeschlagenen Beinen zu ebener Erde auf den yos. Abends wird auf diesen Matten eine flache Baumwollmatratze als Bett ausgerollt.
Vater Kim ist Geschäftsmann und der Schwager Hochschulassistent. Die Familie ist recht wohlhabend. Die Eltern bewohnen drei kleine Zimmer alleine, die Tochter hat ein Haus in der Nachbarschaft. Sogar ein Badezimmer gibt es in der 70-Quadratmeter-Wohnung. Die meisten Nachbarn gehen noch ins Badehaus oder die Sauna, die an jeder Straßenecke zu finden ist. Wie 70 Prozent aller Koreaner rechnen sich die Kims dem Mittelstand zu.
Bei vielen Familien offenbar eine Fehleinschätzung. Denn noch immer gibt es in Südkoreas Hauptstadt drei Millionen Arme. Straßenhändler, Fabrikarbeiter, Näherinnen und Tagelöhner, die vor Jahren in den Slums am Stadtrand zu Hause waren. Um den ausländischen Besuchern eine schönere Hauptstadt zu präsentieren, wurden sie jedoch in den letzten Jahren aus ihren Quartieren von Bulldozern und Geheimpolizei vertrieben. Die Wohnungen in den neuen Appartmentblocks, die an Stelle der Hütten entstanden, können die wenigsten zahlen. Sie vegetieren jetzt weniger auffällig in der Olympiastadt dahin.
Doch bei den Kims ging die Rechnung wie bei vielen Bewohnern Seouls auf. In der Küche stehen heute neben der Sammlung von alter koreanischer Keramik auch ein Mikrowellenherd „Made in South Korea“. Doch trotz der westlichen Fassade gelten im privaten Familienkreis noch immer die „fünf unumstößlichen Beziehungen“ des Konfuzius. Sie verlangen: Loyalität zwischen Obrigkeit und Untertan, Ehrfurcht zwischen Eltern und Kind, Treue und Gehorsam zwischen Eheleuten, Respekt und Ehrerbietung zwischen alt und jung sowie Vertrauen und Wertschätzung unter Freunden. In der Realität heißt das freilich auch im Alltag der Großstadt Seoul: Der Sohn sei dem Vater, die Frau dem Mann und meistens auch die Mutter ihrem Sohn untertan.
Wie bei den meisten Frauen Koreas, dient eine Hochschulausbildung lediglich dazu, eine gute Partie zu finden. „Wer als Frau älter als 25 Jahre ist und noch nicht verheiratet, wird entweder jemandem zur Heirat vorgestellt oder bekommt nahegelegt, den Arbeitsplatz zu verlassen“, erzählt die Sprachlehrerin Yong-Suk.
Wochentags begleitet die Tochter der Familie Kim ihren achtjährigen Sohn zur Schule in der Stadtmitte. In einem Vorraum wartet sie mit anderen Müttern auf den Unterrichtsschluß. Dann fährt sie mit dem Kleinen in der U -Bahn wieder quer durch die Stadt nach Hause. Einmal ungestört Dampf
ablassen
Weniger behütet geht es am Wochenende in der Hochschulstraße, „Dae-hak-no“, zu. In 800 Meter Länge wird die breite Allee abgesperrt. So können die jungen Leute Seouls wenigstens einmal ungestraft Dampf ablassen. Gruppen von Teenagern sitzen mit Gitaren auf dem Asphalt zusammen. In der Mitte stehen ein paar Flaschen Makguli, das traditionelle koreanische Bier aus Reis. In der Nachbarschaft von Cafes und Kleinkunstbühnen haben in den Tagen vor Olympia junge Künstler ihre experimentelle Kunst in Gärten und Parks aufgestellt. Sonntags treten Tanzgruppen auf, die alte koreanische Bauerntänze einstudiert haben. Für die Regierung ist diese Minjung-Bewegung noch immer ein sensibles Thema, „weil sie die revolutionäre Tradition unserer Bauernbewegung wieder auferstehen lassen“, wie ein Schriftsteller formuliert. In bunten Kostümen springen sie wie Derwische und schlagen dazu eine zweiseitige Trommel. Doch haben sich auch ein paar gestylte Modepunks unter die ausgelassenen Studenten gemischt.
An manchen Sonntagen hat eine Musikgruppe ihre Lautsprecher aufs Pflaster gestellt. Auch eine Sekte ist immer dabei. „Halleluja, Jesus Christus, Halleluja“, brüllt sich ihr Prediger im Sonntagsanzug den halben Nachmittag die Seele aus dem bekehrten Leib. Anschließend tritt ein Chor von Teenagern in roten und grünen T-Shirts auf die Bühne. Beide Hände zum Abendhimmel gerichtet, schmettern sie : „Inschall -la, Inschall-la.“ Doch gegenüber haben sich heute ein paar Studenten versammelt. Sie recken die Faust und singen ein Kampflied, das immer wieder auf Demos zu hören ist. Ich habe es mir von einem koreanischen Freund übersetzen lassen. Der Refrain lautet: „Yankees go home, Yankees go home.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen