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Wo ist das Fragezeichen?

■ Wer immer auch der Komponist der Markus-Passion ist, C.Ph. E. Bach ist es trotz Dr. Kümmerlings akribischer Argumentation am Sonnabend höchstwahrscheinlich nicht: Eine Bremer Erstaufführung

Ein dickes Fragezeichen hätte mindestens auf die Plakate gehört: Von Carl Philipp Emanuel Bach soll diese Markus -Passion sein? Sehr unwahrscheinlich. Irgendjemand hat das zwar irgendwann auf die Partitur geschrieben, das heißt nur nicht sehr viel: Noten, auf denen steht, sie seien von Bach, gibt es haufenweise.

Aber diese Partitur hat einen eloquenten Verteidiger gefunden. Dr. Harald Kümmerling, Leiter der Insitutsbibliothek der Kölner Musikwissenschaftler, möchte als ihr Entdecker in die Geschichte eingehen. Um Bachs Autorenschaft zu beweisen, muß er also neue Indizien beschaffen. In seinem Vortrag am Sonnabend verfolgte er zu diesem Zweck zwei Strategien. Sein Hauptargument ist, daß der Komponist die Noten, nicht nur die Musik, der Matthäus -Passion von Johann Se

bastian Bach gekannt haben muß. Sollte das überhaupt stimmen, kommen immer noch eine ganze Menge Bach-Söhne, -Schüler und -Verehrer in Frage. Zweitens versucht Kümmerling, in den Noten versteckte Hinweise zu entdecken. Dafür ein besonders abstruses Beispiel: Am Ende des Stückes steht „Dacapo del signo“. Die jedem Musiker bekannte Aufforderung, noch einmal beim Zeichen anzufangen, heißt aber „Dacapo dal segno“. Del signo deutet Kümmerling als von Herrn, wobei dem signor das „r“ unterschlagen wurde. Wer aber der Herr ist, zeigen ihm die 14 Buchstaben des Zitats. Vierzehn, die Summe der Positionen von B-A-C-H im Alphabeth. Mit solchen Methoden ist dann natürlich auch ein C-H-A-B in den Noten flott als rückwärtslaufende Unterschrift gedeutet. All das

tischte Kümmerling unterhaltsam auf. Nur selten signalisierten die ZuhörerInnen in der Westkrypta durch ungläubiges Gemurmel, daß sie nicht bereit waren, ihm zu folgen.

Entscheidende Fragen stellte Kümmerling gar nicht. Wann hat Philipp Emanuel Bach das Stück geschreiben? Für welchen Anlaß? Woher kommt der Text? Solange noch Wetten angenommen werden können, gebe ich hiermit meinen Tip ab: Die Passion ist von Johann Sebastians ziemlich unbekannten Neffen Johann Ernst Bach.

Das Stück selber ist ausgezeichnet. Wenn es nicht von Philipp Emanuel sein sollte, ist es ein schöner Beweis dafür, daß die Auswahl der angebeteten und immer wieder aufgeführten Meisterwerke ungerecht ist. Gut, mit seinen fast drei Stunden Auffüh

rungsdauer ist es manchmal etwas länglich. Die ewigen Dacapo -Arien sind nicht gerade sehr charaktervoll. Meist schleppen sie sich im Ton milder Freude über die Runden. Die Choräle und Fugen sind steif und akademisch, für die vermutliche Entstehungszeit - so um 1760 - in einem uralten Stil geschrieben.

Aber es gibt auch eine Menge Aufregendes zu entdecken. Das Orchester hat von den avantgardistischen Tendenzen der Mannheimer Hofkapelle eine Menge mitbekommen. Das Wort Christi am Kreuz „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ wird durch eine unglaubliche Instrumentation entrückt und bekommt gleichzeitig die Spannung einer geladenen Opernszene. Für die Zeit überraschende Harmonien erwischen die ZuhörerInnen gerade in den Momenten, wo

scheinbar klar war, wie es weiterzugehen hat.

Zur Textausdeutung wendet der Unbekannte unorthodoxe Mittel an. Das Wort „ewig“ fällt in eine Phrase, die an der Stelle, wo eigentlich Schluß sein müßte, sich immer noch weiterhangelt und kein Ende findet. Pizzicato-Spiel in den Geigen malt ganz konventionell die Harfe Davids ab. Dazu spielt die unglaublichste Blaskapelle in der Geschichte der Kirchenmusik. Zwei Fagotte und zwei Pikkolo-Blockflöten trällern gutgelaunt vor sich hin.

Wolfgang Helbich, der Bremer Domchor und das Bach -Collegium, denen diese spannende Aufführung zu verdanken ist, musizierten stilsicher und zuverlässig. Von den Solisten sei der wunderbare Altist Pieter de Groot herausgehoben.

Axel Weidenfeld

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