Mordprozeß gegen NS-Gendarm

82jähriger muß sich in Nürnberg wegen zweifachen Mordes an polnischen Juden verantworten / Anklage zu weiteren 27 Mordfällen wurde zugunsten eines überschaubaren Verfahrens vorläufig eingestellt / 1977 war er für verhandlungsunfähig erklärt worden  ■  Aus Nürnberg Bernd Siegler

Seit gestern muß sich der ehemalige Polizist Wilhelm Wagner vor dem Nürnberger Schwurgericht wegen zweifachem Mordes und einem Mordversuch, begangen an polnischen Juden im August 1942, verantworten. Schon 1977 war der heute 82jährige in diesem Zusammenhang wegen 29fachen Mordes angeklagt worden. Doch das Verfahren wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt. Ein Gutachten bescheinigt ihm jetzt, täglich bis zu drei Stunden der Verhandlung folgen zu können. Im Sinne eines „konzentrierten, überschaubaren Verfahrens“, so Staatsanwalt Jörg Schwalm, wurden 27 Fälle „vorläufig eingestellt“.

Kurz nach dem Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938 hatte sich Wagner zur Polizei gemeldet. Ein Jahr zuvor war er in die „Sudetendeutsche Heimatfront“ eingetreten, besaß den „Anwärterschein“ auf eine NSDAP -Mitgliedschaft, nahm jedoch 1939 das Parteibuch nicht entgegen. Im November wurde Wagner zur Gendarmerie versetzt und in das polnische Wieliczka abkommandiert, wo er die Verbrechen begangen haben soll.

In der 17.000-Einwohner-Stadt lebten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs etwa 2.000 Juden. Da die deutschen Besatzungstruppen Juden aus der Umgebung zwangen, in die Stadt zu ziehen, stieg deren Zahl bis zum Sommer 1942 auf 8.000 an. Am 27. oder 28.August sollte die Stadt „judenrein“ gemacht werden. Vom Bahnhof aus wurden die Juden in das Vernichtungslager Belzec oder in verschiedene Arbeitslager abtransportiert. Alte und kranke Menschen sowie Kinder wurden im nahegelegenen Wald exekutiert. Laut Anklageschrift kämmten Angehörige der Sicherheitspolizei, des Sicherheitsdienstes und der Gendarmerie, darunter auch Wagner, die Häuser nach versteckten Juden durch, trieben diese zum Sammelplatz oder erschossen sie - einer allgemeinen Weisung folgend - am Entdeckungsort. Wagner wird zur Last gelegt, dabei einem älteren Juden, der sich geweigert hatte, einen Lastkraftwagen zu besteigen, mit einem Schuß aus seiner 9mm-Kaliber-Pistole niedergestreckt zu haben. Ob der Mann an seiner Verletzung gestorben ist, ist unbekannt. Auf der Suche nach Juden soll Wagner auf eine ältere kranke Jüdin gestoßen sein, „die stumm war und entkräftet in ihrem Bett lag“. „Der Angeschuldigte, der alleine war, zog seine Pistole und tötete die Frau durch zwei Kopfschüsse.“ Desweiteren fand Wagner einen alten, erblindeten, bettlägerigen jüdischen Uhrmacher in dessen Wohnung. Wagner ermordete ihn mit zwei Schüssen und stieß die Leiche mit den Füßen zur Tür und die Treppen hinunter. Staatsanwalt Jörg Schwalm wirft dem Angeklagten vor, die Erschießungen „aufgrund eines selbst gefaßten Willensentschlusses“ durchgeführt zu haben. Wagner habe sich dabei „von einem übersteigerten und verwerflichen Machtbewußtsein leiten“ lassen, „indem er über das Schicksal jüdischer Menschen entschied, als sei er Herr über Leben und Tod“.

Ungerührt hörte sich Wagner, auf dessen Spur die Ermittlungsbehörde im Zuge eines NS-Verfahrens in Kiel in den sechziger Jahren gekommen war, gestern die Verlesung der Anklage an. Zur Sache äußerte sich der ehemalige Polizist zunächst nicht. Im Mai 1945 war Wagner nach Bayern gekommen und hatte sofort ein erfolgreiches Gesuch zur Wiedereinstellung in den Polizeidienst gestellt. 1950 wurde er zum Hauptwachtmeister, sechs Jahre später zum Polizeimeister befördert und 1966 in den Ruhestand versetzt. Heute wohnt Wagner in dem ehemaligen Polizeigebäude der mittelfränkischen Stadt Markt-Bibart. Dort fungiert er für 40 Mark monatlich als Hauswart. „Ich achte nur darauf, daß von den Mietern Ordnung gehalten wird.“ Seit dem 27.Juli 1988 sitzt Wagner in Untersuchungshaft. Der Prozeß wird morgen fortgesetzt.