: Liberalisierung - längst keine Demokratie
Der Jesuitenpater ist erbost: „Wegen dieser drei Sekunden wollte man die Slumbewohner von ihrem Land vertreiben und läßt sie jetzt in Erdlöchern hausen.“ John Daly zeigt auf die Autobahn, wo gerade die „geheiligte olympische Flamme“, wie sie die hiesigen Zeitungen nennen, auf einem offenen Jeep vorübergerast ist. Schon einmal, im April letzten Jahres, waren die Slumbewohner aus ihrem angestammten Viertel Sangye im Norden Seouls vertrieben worden - um die Stadt für Olympia zu verschönern. Und jetzt, wo sie in 25 Baracken am Rand der Autobahn in der Nähe der Hauptstadt kampierten, kamen am Mittwoch morgen - ganze drei Tage vor Eröffnung der Spiele - noch einmal Beamte der Stadtverwaltung: „Bis morgen, wenn die olympische Flamme hier vorbeikommt, müßt ihr hinter eine Sperrholzwand umgezogen sein, so daß man euch von der Autobahn aus nicht sieht.“ Die Leute von Sangye gaben nach, denn als Belohnung sollte es endlich eine Baugenehmigung für feste Häuser geben. Als dann der olympische Troß vorbeiflitzte, zimmerten sie noch an ihren neuen Hütten. Von der Straße her war nur die weiß gestrichene Holzwand zu sehen. Die Aufschrift: „Seoul in die Welt, die Welt nach Seoul.“
Friede, Harmonie und Fortschritt lautet das Moto dieser 24.Sommerspiele. Doch zumindest der soziale Friede ist in Südkorea, ein halbes Jahr nach dem Ende der Militärdiktatur, nicht „eingekehrt“, Wahlsieger und Staatspräsident Roh Tae -Woo hat ihn vielmehr den Oppositionsparteien für die Zeit der Spiele abgehandelt. Anfang des Monats ließ er sich von den „drei Kims“ - Kim Dae-Jung (Partei für Frieden und Demokratie), Kim Young-Sam (Demokratische Wiedervereinigungspartei) und Kim Jong-Pil, dem Konservativen Republikaner - in die Hand versprechen, alle innenpolitischen Kontroversen auf nach Olympia zu verschieben. Seit die drei Parteien der Kims bei der Parlamentswahl im April zusammen die Mehrheit bekommen haben, ist Präsident Roh auf sie angewiesen.
Doch wenn die Welt zuschaut, heißt es auch für jeden oppositionellen Koreaner, das nationale Gesicht strahlen zu lassen. Schließlich erhofft sich das Land für die Zukunft einen ähnlichen wirtschaftlichen Aufstieg, wie es ihn Japan nach den Spielen von '64 in Tokio erlebte. Und so konnte 98 Prozent des Stadtgebiets von Seoul - mit den Stimmen der parlamentarischen Opposition - zur sogenannten „Friedenszone“ erklärt werden: Jegliche Ansammlung, geschweige denn Demonstration, ist dort verboten. Die friedensstiftende Wirkung dieser Zonen konnte bereits Jürgen Maier vom Bundesvorstand der Grünen am eigenen Leibe spüren: Vor wenigen Tagen wurde er - nach einem Friedenskongreß aus Seoul abgeschoben.
Dennoch ist unverkennbar, daß Roh um eine Liberalisierung gar nicht herumkommt. Auf Druck der Parlamentsopposition wurde im Juli mit Lee Il-Kyu erstmals jemand zum Obersten Richter des Landes ernannt, der kein Wunschkandidat der Regierung ist. Und so kommt jetzt die Abrechnung mit den Verbrechen unter Diktator Chun Doo-Hwan überraschend schnell auf Touren. Letzte Woche wanderte - wegen Finanzschiebereien - ausgerechnet jener Politiker für zwölf Jahre in den Knast, der die Olympischen Spiele nach Seoul geholt hatte: der ehemalige Bürgermeister der Hauptstadt, Yum Bo-Hyun. Wenige Tage später folgte ihm der Bruder des Ex-Diktaors Chun, Chun Kyung-Hwan: sieben Jahre wegen Bereicherung im Amt. Er war Leiter eines staatlichen Landerschließungsprojektes gewesen. Auch 14 weiteren nahen Chun-Verwandten wurde vorerst verboten, das Land zu verlassen. Eine Gruppe oppositioneller Parlamentarier sucht derweil die Schuldigen für das Massaker von Kwangju, bei dem nach Chuns Putsch im Frühjahr 1980 2.000 Demonstranten auf Geheiß des Diktators niedergemetzelt wurden. Oppositionsführer Kim Dae-Jung, in dessen Heimatprovinz das Massaker stattfand, hat allerdings schon angekündigt, er wünsche keine Verurteilung Chuns. Ein Gerichtsverfahren könnte nämlich Südkorea schon bald auf dem Vulkan tanzen lassen. Schließlich sind der jetzige Präsident Roh Tae-Woo und führende Militärs in das Massaker wie auch in zahlreiche Finanzschiebereien verwickelt.
Ende August erfuhr der südkoreanische Journalist Oh Hyong Keun, wie empfindlich diese Herren in Uniform immer noch auf Publizität reagieren. Für eine Recherche über Korruptionsfälle in Chuns Militär wurde er von vier Geheimdienstleuten auf offener Straße fast totgeschlagen. Zwar mußte der Chef des militärischen Geheimdienstes, Brigadegeneral Kwon Ki-Dae, der den Befehl gegeben hatte, zurücktreten. Doch sein Vorgesetzter, der erzkonservative Verteidigungsminister Oh Ja-Bok, blieb im Amt.
Rohs Macht reicht bisher nicht, die Hardliner im Militär zu entmachten. Und so wird sich erst nach den Olympischen Spielen herausstellen, wie ernst er es mit der Demokratisierung meint. Im Parlament stehen kritische Gesetzesvorlagen an, darunter ein neues Pressegesetz, das regierungsunabhängigen Zeitungen auch finanziell eine Existenzmöglichkeit schaffen soll. Und es wird um lokale Autonomie gehen. Bisher gab es in Südkorea keine Gemeindewahlen, alle Beamten - bis ins kleinste Dorf hinein
-wurden von der Zentralregierung ernannt.
Die erste nacholympische Krise sagen Kommentatoren für November voraus. Dann sind Präsident Roh und - gleichzeitig
-Oppositionsführer Kim Dae-Jung auf Auslandsreisen. In einem Gespräch mit Kim soll Roh vor kurzem sibyllinisch versichert haben: „Machen Sie sich keine Sorgen darum. Ich werde nicht zulassen, daß Sie sich darüber den Kopf zerbrechen müssen.“ Vertreter der bundesdeutschen Wirtschaft in Seoul sind da eindeutiger. „Was bisher läuft“, schätzt einer von ihnen die Lage ein, „ist lediglich eine Liberalisierung. Von Demokratisierung kann noch lange nicht die Rede sein.“
Jürgen Kremb
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