: IWF erzwingt Auflagen mit gefälschten Daten
■ Ein Insider packt aus: Über angeblich zu hohe Arbeitskosten zu Abwertung und Lohnsenkung verpflichtet / Bankkredite verhindert, um „tödlichste Medizin zu verpassen“
Die taz beginnt heute mit der auszugsweisen Dokumentation eines Briefes, den ein ehemaliger Mitarbeiter von Weltbank und IWF zur Erklärung seines Rücktritts an den Direktor des Währungsfonds, Michel Camdessus, schickte (siehe Seite 1). Die heute dokumentierte Passage schildert, wie der IWF durch faule Tricks den Staat Trinidad und Tobago seiner wirtschaftlichen Anpassungspolitik unterworfen hat. Die Dokumentation wird morgen fortgesetzt (d.Red.)
Wie Sie sicher wissen, ist der Index der relativen Arbeitseinheitskosten (RULC), der die Kosten einer Arbeitseinheit in der Produktion des betreffenden Entwicklungslandes im Verhältnis zu den Kosten bei seinen wichtigsten Handelspartnern (Industrieländern) mißt, ein ökonomischer Schlüsselindikator, der im Fonds, je nach Verfügbarkeit statistischen Materials, ausgiebig verwendet wird. Ist die Datenreihe eines Entwicklungslandes einmal verfügbar, so wird sie im allgemeinen an prominenter Stelle unserer regelmäßigen Rechenschaftsberichte an den geschäftsführenden Vorstand auftauchen. Die Bedeutung, die dem RULC zugeschrieben wird, rührt von dem Standpunkt her, wonach ein solcher Index die internationale Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Ökonomie widerspiegelt und daher die Fähigkeit des Landes, weiterhin für Exportmärkte zu produzieren. Anläßlich eines Vorbereitungstreffens für die Konsultationsreise 1987 brachte ein führender Stabsmitarbeiter die jüngsten beunruhigenden RULC-Daten des Landes zur Sprache, die aus unseren Berichten hervorgingen, und bemerkte, daß „diese Statistik die wichtigste ist, die wir je in Trinidad und Tobago erstellen werden“.
Auf seine Weise hatte er recht; keiner, der sich in der Methodologie des Fonds auskannte, hätte an seinen Worten gezweifelt. Sicher, wir hatten nicht zum Spaß die RULC -Datenreihe in den Text und die ins Auge springenden Kurven des statistischen Anhangs aufgenommen. (...) Wir waren uns völlig darüber im klaren, daß die internationale Finanzgemeinschaft unsere Schlußfolgerungen aus den Daten sorgfältig und ehrfürchtig prüfen würde und daß die internationalen Geldmärkte ihre Entscheidungen, Anleihen zu verlängern oder neue Kredite zu gewähren, fast ausschließlich aufgrund dessen fällen würde, was wir zu sagen hatten. Unter diesem Aspekt muß daran erinnert werden, daß die externe Schuldenlast von Trinidad/Tobago relativ neu ist und das Land noch keine Zeit gehabt hat, einen Rechenschaftsbericht über seinen Schuldendienst zu erstellen, den internationale Banken und andere Finanzinstitutionen als verläßliche Grundlage ihrer dortigen Operationen verwenden könnten.
Abgesehen von seiner Bedeutung als Fingerzeig für Geschäftsbanken und andere Kreditgeber hat der RULC-Index entscheidende Bedeutug für die Formulierung der Konditionen des Fonds gegenüber Entwicklungsländern. Tatsächlich ist er die tödlichste Waffe, die wir in unserer Trickkiste haben ganz bestimmt ist sie es, die wir meistens und am effektivsten verwenden, um die Argumente vom Tisch zu wischen, die protestierende Regierungen und Bevölkerungen gegen die Notwendigkeit vorbringen, die Währung abzuwerten und/oder gegen Maßnahmen, die Reallohnquote zu senken, Massenentlassungen von Arbeitern im öffentlichen Sektor vorzunehmen und gegen einschneidende Maßnahmen des „Nachfragemanagements“. So wissen wir, wenn wir auf einen fallenden Index in einem Entwicklungsland stoßen, daß die Zeit reif ist, einem neuen Schädling unsere tödlichste Medizin zu verpassen.
Und 1985/86 waren Trinidad und Tobago an der Reihe. Beide Jahre pochten wir darauf, daß der RULC aus der Reihe scherte und eine massive Geldabwertung nötig sei.
Wie ich schon erwähnte, wurde der RULC-Index für Trinidad -Tobago 1985 und 1986 in den Tabellen im Text des Berichts zur ökonomischen Entwicklung und im statistischen Anhang hervorgehoben und in Diagrammen auch im Arbeitsbericht des Stabs dargestellt. Sogar nach einer vernichtenden Abwertungsrunde Ende 1985 verlangten wir weiterhin schrill und hartnäckig noch stärkere Abwertung, mehr Arbeitslosigkeit im öffentlichen Sektor, Reallohnsenkungen, mehr „Nachfragemanagement“, mehr Deregulierung der Preise für Waren, die die Armen brauchten, mehr Regression im Steuersystem usw. (...)
„Daten fabriziert“
Aber bei alldem ist ein Haken: Der RULC-Index für Trinidad/Tobago war nie der, den wir so laut und beharrlich und entschieden verkündeten. Was wir während dieser Jahre getan haben, war statistisches Material zu „fabrizieren“ den RULC und andere Daten - um es uns zu ermöglichen, unseren Standpunkt zu erhärten und ohne Rücksicht auf ökonomische Realitäten und Bedingungen im Land eine bestimmte Politik zu erzwingen.
Auf Basis der Berechnungen, die unser Abteilungsstatistiker letztes Jahr nach der Rückkehr der Fondsdelegation aus dem Land angestellt hat, sind die relativen Kosten einer Arbeitseinheit in Trinidad und Tobago nur um 69 Prozent gestiegen und nicht um 145,8 Prozent beziehungsweise 142,9 Prozent, wie in unseren Berichten für 1985 und 1986 behauptet wird. Zwischen 1980 und 1985 stieg der RULC tatsächlich nur um 66,1 Prozent, nicht um 164,7 Prozent, wie wir in unseren Berichten 1986 behaupteten. Von 1983-1985 stiegen diese Kosten nur um 14,9 Prozent, nicht um 36,9 Prozent, wie gegenüber der Weltöffentlichkeit 1986 vertreten wurde. 1985 stieg der Index nicht, wie in unseren Verlautbarungen angegeben, um 9 Prozent, sondern sank um 1,7 Prozent. Und 1986 fielen die relativen Arbeitskosten spektakulär um 46,5 Prozent, doch davon wird weder in unserem Bericht für 1987 noch irgendwo sonst in offiziellen Dokumenten des Fonds Notiz genommen. (...) Der revidierte RULC-Index war in Washington zur Publikation im Bericht zur ökonomischen Entwicklung und im Arbeitsbericht des Stabs vorbereitet worden. Aber dazu sollte es nicht kommen; jegliche Bezugnahme auf den RULC-Index wurde aus dem Text gestrichen, aus allen Tabellen und Schaubildern. Der Grund dafür war recht offensichtlich: Das öffentliche Eingeständnis und die Publikation der korrigierten Daten, die den dramatischen Fall des Index 1986 aufzeigen, hätte schwerwiegende Konsequenzen gehabt. Unserer Politik, die nach weiterer Abwertung der Währung verlangte, wäre der Boden entzogen worden, ebenso wie dem umfassenden und scharfen Nachfragemanagement und den Maßnahmen zur Lohn- und Beschäftigungsrestriktion, die der Regierung aufgedrückt wurden. Diese Maßnahmen sollten im nachhinein nicht nur von unserem Exekutivausschuß, sondern von der gesamten internationalen Gemeinschaft abgesegnet werden.
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