: Warnstreik als letztes Mittel
Bundesarbeitsgericht korrigiert eigene Rechtsprechung / „Neue Beweglichkeit“ wird mit Erzwingungsstreik gleichgesetzt / Warnstreiks in der Praxis sind nicht von Erzwingungsstreiks zu unterscheiden ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) - Warnstreiks sind zukünftig nur dann erlaubt, wenn ein Tarifabschluß anders nicht zu erreichen ist. Sie sind nach einer im Juni gefaßten und jetzt veröffentlichten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) echte Erzwingungsstreiks und unterliegen damit dem „Ultima-Ratio -Prinzip“ für Arbeitskampfmaßnahmen. Danach dürfen Kampfmaßnahmen nur als letztes Mittel von den Tarifparteien eingesetzt werden, wenn also allein durch Verhandlungen keine Einigung zu erzielen ist. Das Bundesarbeitsgericht hat damit seine frühere Rechtsprechung korrigiert, wonach die Warnstreiks keinen Erzwingungscharakter besitzen und insoweit auch vor der formellen Erklärung über das Scheitern der Verhandlungen erlaubt sind.
Nach der jetzt veröffentlichten schriftlichen Begründung des Bundesarbeitsgerichts waren die gewerkschaftlichen Warnstreiks in der Praxis nicht von echten Erzwingungsstreiks zu unterscheiden. Die behauptete Demonstrationsfunktion der Warnstreiks sei immer auch mit materieller Druckausübung auf die Arbeitgeber verbunden gewesen. Die neue Rechtsprechung des BAG bezieht sich konkret auf einen von der Gewerkschaft HBV organisierten Warnstreik in der Filiale eines großen Einzelhandelsunternehmens in Baden-Württemberg. Sie nimmt aber auch ausdrücklich Bezug auf die in den letzten Jahren vor allem von der IG Metall und IG Druck und Papier praktizierte Taktik der „Neuen Beweglichkeit“, mit der bereits während der laufenden Tarifverhandlungen Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt werden sollte. „Damit unterscheidet sich der Warnstreik auch in der Form der Neuen Beweglichkeit nicht durch irgendwelche relevanten Kriterien vom Erzwingungsstreik“, heißt es in der Begründung des Bundesarbeitsgerichts. „An seiner von dieser Sicht abweichenden Bewertung des Warnstreiks als rechtlich priviligierte Kampfform (...) hält der Senat nicht fest.“
Allerdings verlangt das so ausgeweitete Ultima-Ratio -Prinzip nach der Entscheidung des BAG nicht, daß Arbeitskampfmaßnahmen erst nach einer formellen Erklärung über das Scheitern der Verhandlungen zulässig sind. Es sei vielmehr die freie und nicht nachprüfbare Entscheidung einer Tarifpartei, daß sie die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen für ausgeschöpft ansieht. Aber auch wenn eine Tarifpartei durch Arbeitskampfmaßnahmen (Warnstreiks, Aussperrungen) demonstriere, daß sie die Verhandlungsmöglichkeiten für ausgeschöpft hält, muß sie zu weiteren Verhandlungen bereit sein.
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